Tobias Hof, 14.03.2024
Was reizt Faschist*innen wie Georgia Meloni so am Herrn der Ringe? Welche Lesarten von Tolkiens Werk lassen solche Interpretationen zu? Tobias Hof klärt uns auf.[1]
J.R.R. Tolkiens Fantasy-Trilogie Der Herr der Ringe, die erstmals 1954 veröffentlicht wurde, erfreute sich in den 1960er Jahren in der linken Gegenkultur in den Vereinigten Staaten und im Vereinigten Königreich großer Beliebtheit. Während der Fantasyroman, der teils als „Bibel der Hippies“ bezeichnet wurde, seinen jungen Lesern und Leserinnen eine Flucht aus der Realität bot, wurden Tolkiens Figuren auch hochgradig politisiert. Vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs (1955–1975) sowie der Studenten- und Antikriegsproteste avancierte Sauron zur Personifizierung des US-Imperialismus und in New Yorker und Londoner U-Bahn-Stationen fanden sich Graffiti–Slogans wie „Frodo lives“ und „Gandalf for President“.[2]
Heutige Medienberichte erwecken aber den Eindruck, dass sich diese progressive politische Adaption von Tolkiens Werken in ihr Gegenteil verkehrt hat. Vor allem die rechtsgerichtete Ministerpräsidentin Italiens, Giorgia Meloni (*1977), einst Mitglied der neofaschistischen Jugendbewegung und eine Bewunderin Benito Mussolinis (1883–1945), gab sich als Tolkien-Fan zu erkennen. Meloni bezeichnete den Herrn der Ringe gar als „heiligen Text“, der ihre persönliche Weltanschauung stark beeinflusst habe. Im November 2023 eröffnete sie in Rom eine Tolkien-Ausstellung, die vom italienischen Kulturministerium ausdrücklich gewünscht und unterstützt wurde.[3]
Die Popularität Tolkiens und der von ihm geschaffenen Fantasywelt im rechtsextremen Milieu Italiens ist jedoch keine Neuigkeit. Vielmehr geht sie auf die erste italienische Ausgabe von Der Herr der Ringe aus dem Jahr 1970 zurück. Marco Tarchi (*1952), ein Protagonist der italienischen rechtsextremen Jugendbewegung in den 1970er Jahren und heute Professor für Politikwissenschaft an der Universität Florenz, schrieb 1975 in seiner Rezension über den Roman, Der Herr der Ringe sei „das zauberhafteste Buch, das wir je in den Händen hatten“ und eigne sich besonders für die rechte Jugend, weil es nicht durch eine faschistische Vergangenheit vorbelastet sei.[4]
Dass gegensätzliche politische Extreme Tolkien für sich in Beschlag nahmen und heute immer noch nehmen, wirft die Frage auf, welche Narrative und Symbole in seinen Werken die italienischen Rechtsextremen besonders ansprachen und ansprechen. Außerdem stellt sich die Frage, warum und wie es dazu kam, dass gerade in Italien erstmals ein rechtsextremes Publikum im größeren Maße Tolkiens Welt für sich entdeckte.
Die Suche nach Antworten und Julius Evola
Die Suche nach Antworten führt uns zunächst zur ersten italienischen Ausgabe von Der Herr der Ringe aus dem Jahr 1970, die im Verlag Rusconi Editrice erschien. Nicht nur war der Verlag in rechten Kreisen beliebt, sondern das Vorwort schrieb auch noch der konservative Philosoph Elémire Zolla (1926–2002). Im Gegensatz zu Tolkien, der jede politische Deutung seines Buches ablehnte, vertrat Zolla die Auffassung, dass Der Herr der Ringe eine mythische Philosophie verkörpere und dass seine archaische Welt, seine Figuren und Symbole eine klare Ablehnung der modernen Gesellschaft darstellten. Darüber hinaus erklärte er, dass der Roman nicht als ein Märchen missverstanden werden dürfe. Vielmehr sei es eine Geschichte über den endgültigen Triumph des Guten über das Böse.[5]
Angesichts von Tolkiens gesellschaftspolitischem Hintergrund war Zollas Interpretation nicht allzu abwegig. Tolkien galt als konservativer Schriftsteller, dessen politische und soziale Ideen auf einem katholischen Weltbild beruhten. Er stand dem wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt skeptisch gegenüber, weil er in ihm eine Gefahr für die menschliche Seele sowie für die Umwelt sah. Tolkien lehnte Sozialismus, Nationalsozialismus und Kapitalismus ab und wertete die Menschheitsgeschichte als einen langwierigen Prozess des Niedergangs. Dennoch hatte er noch die Hoffnung, dass dank einer starken romantischen und ritterlichen Tradition des Heldentums und der Aufopferung eine Besserung noch möglich sei.[6]
Doch es war nicht nur Zollas Interpretation, die es rechtsextremen Kreisen erleichterte, Tolkien für sich zu entdecken. Vielmehr überlappte sich Tolkiens Welt in vielen Bereichen mit der Gedankenwelt des faschistischen Philosophen Julius Evola (1898–1974). Evola wurde in den 1970er Jahren zu einer Ikone der rechtsextremen Jugend Italiens. Er hatte sich nie einer politischen Partei angeschlossen, auch wenn er den italienischen Faschisten, den deutschen Nationalsozialisten und der rumänischen Eisernen Garde nahestand. Er diffamierte Benito Mussolinis Marsch auf Rom 1922 als „Karikatur einer Revolution“ und lehnte dessen faschistisches Regime als zu populistisch und bar jeglicher Spiritualität ab. Folglich kritisierte er in der Nachkriegszeit auch die Nostalgie der neofaschistischen Partei Italiens (Movimento Sociale Italiano, MSI). Dieses angespannte Verhältnis zwischen Evola und dem MSI machte ihn zu einem Verbündeten der orientierungslosen rechtsradikalen Jugend, die sich von der Partei verraten und im Stich gelassen fühlte.[7]
Ein Vergleich von Tolkiens archaischer Welt mit Evolas abstrakter Ideologie, die mehrere Traditionsschulen miteinander vermischte – darunter den Buddhismus, fernöstliche Lehren, den Traditionalismus von René Guénon (1886–1951) und völkische Konzepte –, gibt uns eine Idee davon, welche Narrative aus Tolkiens Romanen Rechtsextreme besonders ansprachen. Im Folgenden sollen drei Aspekte betrachtet werden: der Kampf zwischen Gut und Böse sowie die Rolle des Außenseiters, die Darstellung der Männlichkeit und des Patriarchats und der Antimodernismus.