Alessandra Reß, 05.04.2024
Zuflucht, Parallelwelt, Maskerade: In der Fantasyliteratur hat der Zirkus viele Gesichter und Funktionen, und ist meist ein magischer Ort. Eine Auswahl durch Zeiten und Räume von Alessandra Reß.
Während meiner Schulzeit waren Zirkuszelte ein gewohnter Anblick, und doch alles andere als alltäglich. Mehrmals im Jahr öffneten sich die Tore zu dieser fremdartigen Welt, in der es nach Sägespänen und Zuckerwatte roch, Menschen fantasievolle Kostüme trugen und – damals noch selbstverständlich – exotische Tiere durch die Manege wanderten.
Die Wagenstadt um das Zelt, halb Dorf und halb Kulisse, erschien mir manchmal fast sakral, ich hatte Hemmungen, sie zu betreten. Und wenn sich mit den Stoffbahnen am Eingang das Portal schloss und in der Manege die Aufführung begann, war ich immer hin- und hergerissen zwischen freudiger Aufregung auf der einen und Angst auf der anderen Seite angesichts der Kunststücke, der Tiere, der geschminkten Gesichter. Trotzdem wollte ich jedes Mal wieder hin, wenn ein Zirkus in der Stadt gastierte.
Heute steht auf der Zirkuswiese ein Einkaufszentrum. Es ist mindestens ein Jahrzehnt her, seit ich zuletzt eine Manege live gesehen habe, und mir begegnen nur noch selten die charakteristischen Werbebanner, mit denen auf den Besuch der Artist*innen aufmerksam gemacht wird. Die Hochzeit der traditionellen Wanderzirkusse ist vorbei, bedingt u. a. durch wachsende Konkurrenz innerhalb der Unterhaltungsindustrie, bürokratische Hürden, Nachwuchsmangel und Widerstand gegen die (inzwischen in einigen Staaten verbotene) Tierhaltung.
Der romantisierenden Faszination an diesem Mikrokosmos hat das jedoch keinen Abbruch getan.