„Anarchie Déco 1930“ – eine Versuchsanleitung
Wir haben keine Antwort darauf, wie man über Faschismus und den Widerstand dagegen schreiben kann. Wir können nur beantworten, wie wir darüber geschrieben haben.
In unserem Roman „Anarchie Déco“, der 2021 bei Fischer TOR erschien, wird im Berlin der 1920er parallel zur Quantenphysik die magische Physik entdeckt, die keine angeborene magische Begabung voraussetzt, sondern prinzipiell in der Kombination von Kunst und Wissenschaft von allen Menschen gewirkt werden kann. Die Effekte sind dabei häufig schwer vorherseh- und noch schwerer steuerbar, es ist ein bisschen, wie einen Versuch aus dem Chemieunterricht in einem fahrenden Cabrio nachzubauen. Auf dem Fahrersitz. Bei Hagel. Diese erschwerten Grundbedingungen machen Magie nicht gerade zugänglich, aber wer genügend Entschlossenheit mitbringt, kann magische Experimente nachbauen und neue entwickeln. Natürlich bedienen sich also auch Nationalsozialisten, SA und völkische Esoteriker*innen an den neu entdeckten physikalischen Phänomenen, eine Entwicklung, die im Folgeband „Anarchie Déco 1930“ zwei Jahre weiter fortgeschritten ist.
1930 erstarkt also ein magischer Faschismus – und die Frage, wie sich realer Faschismus mit Fantasyelementen versehen lässt, ohne dabei bei Indiana-Jones-Nazis zu landen, versuchen wir hier spoilerfrei oder zumindest spoilerarm zu beantworten.
1. Nazi-Suppe
In der Wirtschaftskrise der 1930er waren Suppenküchen ein probates Wahlkampfmittel, um Stimmen für die NSDAP zu sichern. Faschismus ist ein Elitenprojekt, das jedoch nur gelingen kann, wenn es anschlussfähig für die Masse wird, und da bietet jede Krise einen Anknüpfungspunkt an die Hilflosigkeit derer, die ihr ausgeliefert sind. Aber die Suppe, die Nazis einer*m einbrocken, kann nicht satt machen, soviel ist sicher.
»Du hättest uns sagen sollen, was wir da fressen!«
»Dachte, Eintopf ist Eintopf. Man frisst doch deren Politik nicht mit!«
»Ja, offenbar doch. Man frisst mit, dass die nix zu bieten haben. Dass man dran verhungert.«
»Dit wussten wir nich.« Dito rang die mageren Hände.
»Kriegt man raus, wenn man ihr Parteiprogramm liest«, bemerkte Isolde trocken.
2. Geschlechterrollen und Esoterik
Kennste, kennste, Männer immer so, Frauen immer so – was heute auf Bühnen für Lacher sorgt und als „feminine / masculine energy“ auf Instagram sein Unwesen treibt, also die Naturalisierung von Geschlechterrollen, ist eine Rutschpartie in stramm rechte Ideologien.
Dass Magie Kunst und Wissenschaft erfordert und zudem auch immer von einem Mann und einer Frau zusammen gewirkt werden muss, war die Ausgangsprämisse des ersten Bands von „Anarchie Déco“; eine Binarität, die die Hauptfiguren im Laufe des Romans überwinden. Den Nazi-Zaubernden in „Anarchie Déco 1930“ liegt allerdings wenig daran, der Erkenntnis nachzugehen, dass die gegenderte Komponente von Magie überwunden werden kann, und sie haben dafür eine eigene Lösung parat, um die Geschlechterrollen aufrechtzuerhalten:
»Immer zwei Personen werden benötigt, um einen Zauber zu wirken. Mann und Frau, gemäß der Ordnung der Natur. Wahrheit und Inspiration, Rationalität und Emotionalität, das Aktive und das Passive, das Gebende und das Empfangende. So und nicht anders ist unsere Welt gemacht. Das ist unabänderlich, und jeder Versuch, es zu verändern, wäre abnorm, krank, entartet.« Selbst durch den Nebel ihres Entsetzens hindurch befand Nike, dass diese Weltordnung immer unglaubwürdiger wirkte, je mehr er darauf herumritt. »Doch mit Hilfe der geweihten Rune steht der zaubernden Frau allezeit ein magischer Partner aus dem Volkskörper bereit, dem zaubernden Manne allezeit ein magisches Weib. Der Kamerad an der Schulter, die Kameradin im Rücken!«
3. Ein magischer Zündfunke für Gewalt
Das Thema Gedankenmanipulation ist ein schmaler Grat. Würden Nazis sich daran versuchen, den menschlichen Geist zu beeinflussen? Na klar. Besteht dabei die Gefahr, den faschistischen Mob als lediglich magisch manipuliert darzustellen? Siehe oben – na klar. In „Anarchie Déco 1930“ befinden wir uns, wie der Titel schon sagt, im Jahr 1930. Das heißt, das Elend ist groß, die Entschlossenheit und Präsenz der Nationalsozialisten ebenfalls – aber in unserer realen Zeitlinie dauerte es eben noch drei Jahre und brauchte auch dann die Kooperation der Konservativen.
Aber so ein kleiner magischer Schubser? Der Impuls, stolz auf alles in sich zu sein, was deutsch ist, also „normal“ ist? Die Abscheu auf alles verstärken, was anders ist? Die Nazis hätten dazu sicher nicht Nein gesagt. Doch sie brauchten kein magisch beeinflusstes, „verzaubertes“ Volk – was sie vorhatten, erforderte nichts als ganz normale Deutsche. Statt einer Lenkung des Willens, einer Fernsteuerung von Massen ist es im Roman ein magischer Zündfunke, der das lostritt, was ohnehin schon da ist.
Das alles hatte etwas in Gang gesetzt. Es lief jetzt von allein weiter, als wäre ein Block auf den Gleisen weggezogen worden, der einen Waggon voller Sprengstoff blockiert hatte, und jetzt wollten es alle wissen: was geschehen würde, wenn er aufprallte. Nichts hemmte mehr, nichts hielt. Magie hatte Gewalt geschaffen, aber die Gewalt würde ganz ohne die Magie bestehen. Und all denen nützen, die die Gewalt brauchten, die den Wagen mit Sprengstoff befüllt hatten.
Antifaschistisch schreiben!
Aber, sagt ihr jetzt vielleicht, das waren Beispiele fürs Schreiben von Fantasy-Faschismus, nicht von Fantasy-Antifaschismus. Während wir diese Zeilen schreiben, liegt die AfD in der Sonntagsfrage gleichauf mit der CDU/CSU und ist auf dem Weg, die meistunterstützte politische Kraft in Deutschland zu werden. Die antifaschistischen Antworten, die uns dazu im Elfenbeinturm einfallen, sind vielleicht nur Wunschdenken.
Aber eine unserer ganz persönlichen Antworten ist: Unterschiedlichkeit feiern! Diversität in der Fiktion befindet sich aktuell in einem Spannungsfeld zwischen einerseits Checklisten-Repräsentation, die „korrekte“ Darstellung fordert und versucht, dafür allgemeingültige, aber nur implizit vorhandene Maßstäbe zu setzen. Und andererseits der Ablehnung von allem, was über weiße hetero cis Männer als Norm hinausgeht, als „woke“ und krampfig. Worum es uns aber (wieder) gehen muss, ist, die Normalität einer In-Group zu (zer)stören – Unterschiedlichkeit zu schreiben, nicht, weil wir glauben, dass irgendwer im Internet es von uns verlangt, sondern weil wir an Unterschiedlichkeit als antifaschistische Praxis glauben.
Als Antifaschist*innen muss es uns wertvoll sein, einander in unseren Unterschiedlichkeiten und Widersprüchlichkeiten zu sehen, gerade wenn wir persönlich andere Entscheidungen treffen, anders leben und generell Dinge anders machen als unser Gegenüber. Unterschiedlichkeit wirkt für faschistische Bewegungen zersetzend. Diese können nur funktionieren, wenn die, die ihnen angehören, ihre eigene Abweichung so zurechtstutzen, dass sie mit Ach und Krach als normal durchgehen (weshalb Alice Weidel natürlich nicht queer ist, sondern eine Frau, die mit einer anderen Frau zusammenlebt und Kinder großzieht).
Helga hatte sie auch gespürt, lähmend war sie ihr in die Glieder gefahren, diese Gewissheit, dass sie nicht sicher war.
War sie nicht selbst ausgelacht worden wegen ihres Lispelns? War ihr Großvater nicht Jude gewesen? War sie nicht deshalb ledig, weil sie mit Männern so gar nichts anzufangen wusste?
Müsste sie sich nicht auf sich selbst losgehen, weil sie eine schlechte Deutsche war?
Und eine zweite persönliche Antwort ist: Das Komplexe nicht aufgeben! Weiterhin den Willen zu haben, für das Schwierige, das Unfertige einzutreten – als Antwort auf die vielen gewaltigen bedrohlichen Krisen nicht die einfache Lüge zu wählen, sondern anzuerkennen, dass es kompliziert ist.
»Die Nazis sind im Grunde genommen fantasielos«, sagte Sandor. »Ihre Fantasien sind so flach und durchschaubar wie ihre Kunst. Weil alles so kompliziert ist. Weil Leute Schiss haben vor Arbeitslosigkeit und Elend und Politik und davor, dass nix passiert, und davor, dass das Falsche passiert.«
»Also … kontern wir das mit was noch Einfacherem? Gutem Leben für alle«, schlug Julia vor. »Wir schrotten ihren Hass mit so was Radikalem wie gegenseitiger Hilfe.«
»Ich glaub kaum, dass das reicht«, sprach Jiří aus, woran Sandor herumformulierte. Er schloss sich mit einem Nicken an und hob das goldene Herz vom Boden auf.
»Wisst ihr, wieso wir nichts Großes mehr hingekriegt haben, nichts Fantasievolles, keine Kunst, die Leute hinterm Ofen hervorlockt?«, fragte er mit dem Herz in der Hand wie Hamlet mit dem Schädel. »Weil das Überleben alles Große in uns abgemurkst hat. Wir haben selbst keine Fantasie mehr. Wir sehnen uns selbst nach dem Einfachen – irgendetwas Naheliegendem, was wir versuchen können. Einem letzten Ausweg, der gelingt oder nicht. Wir können das Große nicht mehr denken, es ist zu weit weg, zu schwierig, zu mühsam, zu unwahrscheinlich.«
»Wenn wir die Frequenz kontern, dann mit etwas Großem.« Jiří verstand ihn. Er sah den Künstler, dem seine Kunst abhandengekommen war.
»Mit etwas Schwierigem.«
»Mit etwas Weithergeholtem!«, stimmte Julia zu.
»Etwas, was man kaum denken kann!«, fiel Egbert ein.
»Mit entarteter Kunst!«, jubelte Eli.
»Mit schwierigen Antworten«, rief Ulrike.
»Mit Hoffnung auf alle Möglichkeiten!«
»Mit wirren Träumen!«
»Wir zerstören das, was sie senden, wir zersetzen es!«
»Wir zerträumen es!« Sandor wusste nicht, wer das gerufen hatte, eine Stimme wie ein Messer, das durch alles schnitt, was sie zurückhielt. Ein dreckiges Dutzend konnte mit einem guten, schwierigen, weithergeholten Traum eine ganze Stadt zerträumen.