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Antifaschistische Phantastik – eine Anleitung

Coverausschnitt "Anarchie Deco 1930". Im Vordergrund eine altmodische Laterne mit jeweils einer Lampe links und rechts. im Hintergrund rechts die Siegessäule aus Berlin, rechts eine andere Statue.

Judith und Christian Vogt, 17.04.2025

Schwere Zeiten, Faschismus im Aufstieg – was kann die Phantastik da tun? Judith und Christian Vogt erklären uns anhand eines praktischen Beispiels zu ihrem Roman „Anarchie Déco 1930“, wie Faschismus in der phantastischen Literatur thematisiert werden kann.

Die eskapistischen Genres und ihre Autor*innen sind politisch; man muss der Phantastik schon völlig abgewandt sein, um das nicht wahrzunehmen. Gerade das Bauen einer Welt, die nicht die unsere ist, ist ein politischer Akt, der sicherlich teils unbewusst vonstatten geht – aber immer auch unsere Weltanschauung transportiert.

Und die ist, das sei vorausgeschickt, in der Phantastik gegenwärtig überwiegend vage links-grün, ohne das jetzt konkreten politischen Parteien zuordnen zu wollen. Außerdem gibt es sicherlich Autor*innen, die sich als unpolitisch verstehen oder sich sogar dagegen wehren, irgendwie verortet zu werden, und versuchen, gegenwärtige gesellschaftliche Konflikte und die Stellungnahme dazu in ihren Geschichten zu vermeiden. Ob das nicht in sich schon einen politischen Akt darstellt, sei mal dahingestellt.

Die Phantastik kann aber natürlich für rechte Gesinnung instrumentalisiert werden, und dass es auch konservative, rechte und auch rechtsextreme Akteur*innen in der Phantastik gibt, ist unbestritten. Die Neue Rechte versucht, die Literaturszene für sich zu nutzen – die Tagesschau berichtet über rechte Lesekreise, Literatursendungen und eine rechte Buchmesse in Halle (Saale), mit denen Rechte anknüpfungsfähiger fürs Mainstreampublikum werden wollen. Schreiben und Lesen sind also als Tätigkeit nicht immun gegen das Erstarken rechtspopulistischer Positionen.

 Ähnlich gefährlich wie rechte Einstellungen ist dabei die Normalisierung durch vermeintliche Neutralität: Alle Jahre wieder verkünden Buchmessen, dass sie auch rechten Verlagen Standgenehmigungen erteilen, verkünden Mainstream-Verlage, dass sie auch rechten Autor*innen und ihren Talking Points Platz einräumen, weil, weil … die Ausgewogenheit und so.

Autor*innen gegen Rechts

Und genauso regelmäßig gibt es Boykotte, Aufrufe und offene Briefe von Autor*innen und Leser*innen, wie beispielsweise im Kontext vom Buch „Willkommen im falschen Film“, das mittlerweile aufgrund des Protests von Leser*innen und Autor*innen vom Piper-Verlag zum rechten Plassen-Verlag gewandert ist, wo unter anderem Alice Weidel veröffentlicht. Zur Bundestagswahl gründete sich ein Zusammenschluss von Schreibenden unter dem Namen „Autor*innen gegen Rechts“, um gemeinsam zur Wahl von Parteien aufzurufen, die für Demokratie, Menschenrechte und gesellschaftlichen Fortschritt stehen.

Der Blick aus dem Elfenbeinturm

Dabei leben Autor*innen schon seit hundert Jahren im Widerstreit dessen, dass Literatur für gesellschaftlichen Wandel unerlässlich und wirkmächtig ist – und ihre dann doch mordsprivilegierte Tätigkeit trotzdem nie genug. Kreatives Schreiben findet eben im Elfenbeinturm statt, nicht in der politischen Arbeit und erst recht nicht auf der sprichwörtlichen Straße.

Wir Phantast*innen stehen noch vor einer weiteren Herausforderung: Die Verfremdung, die wir in Fantasy- oder Science-Fiction-Werken vornehmen, ist eine Ecke, um die nicht alle Rezipient*innen mitgehen.

Der Aufstand gegen ein unterdrückerisches Regime etwa ist eine typische Erzählung mit oft antifaschistischer Intention. So sagte George Lucas, dass die Rebellion in Star Wars an den Kampf des Vietkong gegen die imperiale USA angelehnt sei. Durch die Verfremdung wird aber auch eine andere Interpretation möglich: Der Kampf vermeintlich rechtschaffender Farmer, die die Republik wieder great again machen möchten, gegen dekadente Städter und ihre Regeln. Noch einfacher ist eine Umdeutung von rechts bei Die Tribute von Panem, in der eine queer ge-codete Upperclass mit bunten Haaren einem dekadenten Leben frönt und dabei das einfache Volk unterdrückt.

Wie vermeiden wir als Autor*innen diese Verdrehung unseres Weltenbaus? In Star Wars gelingt das der Serie Andor, die zum ersten Mal das galaktische Imperium nicht nur im Look and Feel als faschistisch beschriebt, sondern auch durch die ganz konkrete, detaillierte und vielschichtige Darstellung der gesellschaftlichen Machtmechanismen.

Faschismus verstehen!

Das Beispiel Andor zeigt: Um antifaschistisch zu schreiben, muss man Faschismus verstehen. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht: Denn um antifaschistisch zu sein, muss man nicht unbedingt Faschismus verstehen. Oft kann man antifaschistisch aus einem Impuls heraus sein, aus Empathie, aus Respekt vor anderen Lebenswirklichkeiten, aus Abscheu vor rechten Thesen und rechter Gewalt, aus Wut über hitlergrußzeigende Milliardäre. Es braucht kein tieferes Verständnis von faschistischen Kräften der Vergangenheit und der Gegenwart, um gegen die AfD zu demonstrieren, gegen eine rechte Buchmesse zu protestieren oder im örtlichen autonomen Zentrum einem Punkkonzert zu lauschen.

Fangen wir erst mal damit an, was Faschismus nicht ist: „Nicht alles, was man nicht mag, ist Faschismus. Nicht jeder Antisemit und Rassist ist gleichzeitig Faschist. Faschismus ist nicht der sprachliche Maximalismus für alles, was doof ist“, schreibt Faschismusexpertin Natascha Strobl, deren Bücher, Texte und Talks die Ideologie verständlich zu umreißen vermögen.

Was Faschismus auch nicht ist, ist immer deutsch. Oder noch enger definiert: immer italienisch. Er ist nicht einmal immer national, wie uns gerade der Tech-Bro-Faschismus beweist, von dem Elon Musk die Eisbergspitze ist.

Faschismus ist laut Strobl eine Ideologie, eine Herrschaftsform und eine Bewegungsform, er ist wandlungs- und anpassungsfähig und unterliegt zeitgenössischen „Moden“ und ist deshalb nicht leicht und trennscharf zu umreißen. Alle Formen des Phänomens haben aber ein paar gemeinsame Erkennungsmerkmale: Faschismus entsteht als Reaktion auf Krisen und eine als dekadent empfundene Gegenwart. Er gibt ein Ordnungsversprechen, das gewaltsam und mit autoritärer Macht durchgesetzt werden soll. Er hat außerdem immer das Element einer nach außen abzugrenzenden „In-Group“: ein Volk, eine Nation, eine Kultur. Dieser In-Group macht er ein Heilsversprechen auf eine Wiedergeburt als „reine“ Gemeinschaft (und das trifft zum Beispiel auch auf eine internationale Bande superreicher Weißer zu, die den Mars besiedeln wollen, um die Sonderform des Tech-Bro-Faschismus noch einmal aufzugreifen). Selbsterklärend, dass dazu alle, die die „Dekadenz“ verursacht haben und die die neu zu schaffende Ordnung stören, gewaltsam entfernt werden müssen.

Generell ist die Funktion von Gewalt ein weiteres Erkennungsmerkmal von Faschismus: Gewalt ist nicht nur Mittel zum Zweck, wie bei vielen anderen Ideologien, wo die Gewalt eingestellt werden kann, wenn das Ziel erreicht ist. Faschismusforscher Robert Paxton sieht Faschismus nicht als Ideologie, sondern als politisches Verhalten, nämlich das von erlösender Gewalt ohne ethische oder rechtliche Begrenzung. Gewalt um der Gewalt willen, mit den Eliten oben und dem ausführenden „Mob“ unten. Die faschistische Praxis hat damit einen rauschhaften Charakter, der im Kontrast, aber nicht im Widerspruch zum religiös anmutenden Charakter faschistischer Herrschaft steht.

Es ist klar, wie die Massenmorde der Shoah, des Holocausts da hineinpassen – sie ergeben sich kausal aus dieser Ideologie. Gleichzeitig gilt der Holocaust heute als derart singulär, dass uns in der Konsequenz auch Faschismus singulär scheint. Solange es kein offener Genozid ist, kann es nicht so schlimm sein, und alle Leute, die in gegenwärtigen Bewegungen Faschismus erkennen und benennen, werden als der Junge hingestellt, der „Wolf!“ schrie.

Also, wie schreiben wir über Faschismus, über ein Phänomen, das derart komplex ist, dass wir hier über die Banalität des Bösen, wie Hannah Arendt es nannte, also Bürokratie, Hierarchie, Normativität, die Verquickungen mit Konservatismus und Arbeiter*innenklasse noch gar nicht geredet haben? Können wir Aspekte herausgreifen und fiktionalisiert beleuchten oder sind alle Zahnräder der Maschinerie aufeinander angewiesen?

Eben weil es so komplex ist, gibt es gerade in der Phantastik die Verlockung, Faschismus als etwas Übernatürliches darzustellen – eine Kraft wie Massenhypnose, Vampirismus, Gedankenmanipulation oder eine Art Infektion. Seine Anhänger wie Orks, geschaffen für das Böse. Doch letztlich sind nicht die Machttricks der Sith dafür verantwortlich, dass die Freiheit zugrunde geht – sondern die Senator*innen, die einer vermeintlichen Erlösung donnernden Applaus spenden.

„Anarchie Déco 1930“ – eine Versuchsanleitung

Wir haben keine Antwort darauf, wie man über Faschismus und den Widerstand dagegen schreiben kann. Wir können nur beantworten, wie wir darüber geschrieben haben.

In unserem Roman „Anarchie Déco“, der 2021 bei Fischer TOR erschien, wird im Berlin der 1920er parallel zur Quantenphysik die magische Physik entdeckt, die keine angeborene magische Begabung voraussetzt, sondern prinzipiell in der Kombination von Kunst und Wissenschaft von allen Menschen gewirkt werden kann. Die Effekte sind dabei häufig schwer vorherseh- und noch schwerer steuerbar, es ist ein bisschen, wie einen Versuch aus dem Chemieunterricht in einem fahrenden Cabrio nachzubauen. Auf dem Fahrersitz. Bei Hagel. Diese erschwerten Grundbedingungen machen Magie nicht gerade zugänglich, aber wer genügend Entschlossenheit mitbringt, kann magische Experimente nachbauen und neue entwickeln. Natürlich bedienen sich also auch Nationalsozialisten, SA und völkische Esoteriker*innen an den neu entdeckten physikalischen Phänomenen, eine Entwicklung, die im Folgeband „Anarchie Déco 1930“ zwei Jahre weiter fortgeschritten ist.

1930 erstarkt also ein magischer Faschismus – und die Frage, wie sich realer Faschismus mit Fantasyelementen versehen lässt, ohne dabei bei Indiana-Jones-Nazis zu landen, versuchen wir hier spoilerfrei oder zumindest spoilerarm zu beantworten.

1. Nazi-Suppe

In der Wirtschaftskrise der 1930er waren Suppenküchen ein probates Wahlkampfmittel, um Stimmen für die NSDAP zu sichern. Faschismus ist ein Elitenprojekt, das jedoch nur gelingen kann, wenn es anschlussfähig für die Masse wird, und da bietet jede Krise einen Anknüpfungspunkt an die Hilflosigkeit derer, die ihr ausgeliefert sind. Aber die Suppe, die Nazis einer*m einbrocken, kann nicht satt machen, soviel ist sicher.

»Du hättest uns sagen sollen, was wir da fressen!«

»Dachte, Eintopf ist Eintopf. Man frisst doch deren Politik nicht mit!«

»Ja, offenbar doch. Man frisst mit, dass die nix zu bieten haben. Dass man dran verhungert.«

»Dit wussten wir nich.« Dito rang die mageren Hände.

»Kriegt man raus, wenn man ihr Parteiprogramm liest«, bemerkte Isolde trocken.

2. Geschlechterrollen und Esoterik

Kennste, kennste, Männer immer so, Frauen immer so – was heute auf Bühnen für Lacher sorgt und als „feminine / masculine energy“ auf Instagram sein Unwesen treibt, also die Naturalisierung von Geschlechterrollen, ist eine Rutschpartie in stramm rechte Ideologien.

Dass Magie Kunst und Wissenschaft erfordert und zudem auch immer von einem Mann und einer Frau zusammen gewirkt werden muss, war die Ausgangsprämisse des ersten Bands von „Anarchie Déco“; eine Binarität, die die Hauptfiguren im Laufe des Romans überwinden. Den Nazi-Zaubernden in „Anarchie Déco 1930“ liegt allerdings wenig daran, der Erkenntnis nachzugehen, dass die gegenderte Komponente von Magie überwunden werden kann, und sie haben dafür eine eigene Lösung parat, um die Geschlechterrollen aufrechtzuerhalten:

»Immer zwei Personen werden benötigt, um einen Zauber zu wirken. Mann und Frau, gemäß der Ordnung der Natur. Wahrheit und Inspiration, Rationalität und Emotionalität, das Aktive und das Passive, das Gebende und das Empfangende. So und nicht anders ist unsere Welt gemacht. Das ist unabänderlich, und jeder Versuch, es zu verändern, wäre abnorm, krank, entartet.« Selbst durch den Nebel ihres Entsetzens hindurch befand Nike, dass diese Weltordnung immer unglaubwürdiger wirkte, je mehr er darauf herumritt. »Doch mit Hilfe der geweihten Rune steht der zaubernden Frau allezeit ein magischer Partner aus dem Volkskörper bereit, dem zaubernden Manne allezeit ein magisches Weib. Der Kamerad an der Schulter, die Kameradin im Rücken!«

3. Ein magischer Zündfunke für Gewalt

Das Thema Gedankenmanipulation ist ein schmaler Grat. Würden Nazis sich daran versuchen, den menschlichen Geist zu beeinflussen? Na klar. Besteht dabei die Gefahr, den faschistischen Mob als lediglich magisch manipuliert darzustellen? Siehe oben – na klar. In „Anarchie Déco 1930“ befinden wir uns, wie der Titel schon sagt, im Jahr 1930. Das heißt, das Elend ist groß, die Entschlossenheit und Präsenz der Nationalsozialisten ebenfalls – aber in unserer realen Zeitlinie dauerte es eben noch drei Jahre und brauchte auch dann die Kooperation der Konservativen.

Aber so ein kleiner magischer Schubser? Der Impuls, stolz auf alles in sich zu sein, was deutsch ist, also „normal“ ist? Die Abscheu auf alles verstärken, was anders ist? Die Nazis hätten dazu sicher nicht Nein gesagt. Doch sie brauchten kein magisch beeinflusstes, „verzaubertes“ Volk – was sie vorhatten, erforderte nichts als ganz normale Deutsche. Statt einer Lenkung des Willens, einer Fernsteuerung von Massen ist es im Roman ein magischer Zündfunke, der das lostritt, was ohnehin schon da ist.

Das alles hatte etwas in Gang gesetzt. Es lief jetzt von allein weiter, als wäre ein Block auf den Gleisen weggezogen worden, der einen Waggon voller Sprengstoff blockiert hatte, und jetzt wollten es alle wissen: was geschehen würde, wenn er aufprallte. Nichts hemmte mehr, nichts hielt. Magie hatte Gewalt geschaffen, aber die Gewalt würde ganz ohne die Magie bestehen. Und all denen nützen, die die Gewalt brauchten, die den Wagen mit Sprengstoff befüllt hatten.

Antifaschistisch schreiben!

Aber, sagt ihr jetzt vielleicht, das waren Beispiele fürs Schreiben von Fantasy-Faschismus, nicht von Fantasy-Antifaschismus. Während wir diese Zeilen schreiben, liegt die AfD in der Sonntagsfrage gleichauf mit der CDU/CSU und ist auf dem Weg, die meistunterstützte politische Kraft in Deutschland zu werden. Die antifaschistischen Antworten, die uns dazu im Elfenbeinturm einfallen, sind vielleicht nur Wunschdenken.

Aber eine unserer ganz persönlichen Antworten ist: Unterschiedlichkeit feiern! Diversität in der Fiktion befindet sich aktuell in einem Spannungsfeld zwischen einerseits Checklisten-Repräsentation, die „korrekte“ Darstellung fordert und versucht, dafür allgemeingültige, aber nur implizit vorhandene Maßstäbe zu setzen. Und andererseits der Ablehnung von allem, was über weiße hetero cis Männer als Norm hinausgeht, als „woke“ und krampfig. Worum es uns aber (wieder) gehen muss, ist, die Normalität einer In-Group zu (zer)stören – Unterschiedlichkeit zu schreiben, nicht, weil wir glauben, dass irgendwer im Internet es von uns verlangt, sondern weil wir an Unterschiedlichkeit als antifaschistische Praxis glauben.

Als Antifaschist*innen muss es uns wertvoll sein, einander in unseren Unterschiedlichkeiten und Widersprüchlichkeiten zu sehen, gerade wenn wir persönlich andere Entscheidungen treffen, anders leben und generell Dinge anders machen als unser Gegenüber. Unterschiedlichkeit wirkt für faschistische Bewegungen zersetzend. Diese können nur funktionieren, wenn die, die ihnen angehören, ihre eigene Abweichung so zurechtstutzen, dass sie mit Ach und Krach als normal durchgehen (weshalb Alice Weidel natürlich nicht queer ist, sondern eine Frau, die mit einer anderen Frau zusammenlebt und Kinder großzieht).

Helga hatte sie auch gespürt, lähmend war sie ihr in die Glieder gefahren, diese Gewissheit, dass sie nicht sicher war.

War sie nicht selbst ausgelacht worden wegen ihres Lispelns? War ihr Großvater nicht Jude gewesen? War sie nicht deshalb ledig, weil sie mit Männern so gar nichts anzufangen wusste?

Müsste sie sich nicht auf sich selbst losgehen, weil sie eine schlechte Deutsche war?

 

Und eine zweite persönliche Antwort ist: Das Komplexe nicht aufgeben! Weiterhin den Willen zu haben, für das Schwierige, das Unfertige einzutreten – als Antwort auf die vielen gewaltigen bedrohlichen Krisen nicht die einfache Lüge zu wählen, sondern anzuerkennen, dass es kompliziert ist.

»Die Nazis sind im Grunde genommen fantasielos«, sagte Sandor. »Ihre Fantasien sind so flach und durchschaubar wie ihre Kunst. Weil alles so kompliziert ist. Weil Leute Schiss haben vor Arbeitslosigkeit und Elend und Politik und davor, dass nix passiert, und davor, dass das Falsche passiert.«

»Also … kontern wir das mit was noch Einfacherem? Gutem Leben für alle«, schlug Julia vor. »Wir schrotten ihren Hass mit so was Radikalem wie gegenseitiger Hilfe.«

»Ich glaub kaum, dass das reicht«, sprach Jiří aus, woran Sandor herumformulierte. Er schloss sich mit einem Nicken an und hob das goldene Herz vom Boden auf.

»Wisst ihr, wieso wir nichts Großes mehr hingekriegt haben, nichts Fantasievolles, keine Kunst, die Leute hinterm Ofen hervorlockt?«, fragte er mit dem Herz in der Hand wie Hamlet mit dem Schädel. »Weil das Überleben alles Große in uns abgemurkst hat. Wir haben selbst keine Fantasie mehr. Wir sehnen uns selbst nach dem Einfachen – irgendetwas Naheliegendem, was wir versuchen können. Einem letzten Ausweg, der gelingt oder nicht. Wir können das Große nicht mehr denken, es ist zu weit weg, zu schwierig, zu mühsam, zu unwahrscheinlich.«

»Wenn wir die Frequenz kontern, dann mit etwas Großem.« Jiří verstand ihn. Er sah den Künstler, dem seine Kunst abhandengekommen war.

»Mit etwas Schwierigem.«

»Mit etwas Weithergeholtem!«, stimmte Julia zu.

»Etwas, was man kaum denken kann!«, fiel Egbert ein.

»Mit entarteter Kunst!«, jubelte Eli.

»Mit schwierigen Antworten«, rief Ulrike.

»Mit Hoffnung auf alle Möglichkeiten!«

»Mit wirren Träumen!«

»Wir zerstören das, was sie senden, wir zersetzen es!«

»Wir zerträumen es!« Sandor wusste nicht, wer das gerufen hatte, eine Stimme wie ein Messer, das durch alles schnitt, was sie zurückhielt. Ein dreckiges Dutzend konnte mit einem guten, schwierigen, weithergeholten Traum eine ganze Stadt zerträumen.

Judith Vogt

Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.

www.jcvogt.de

Christian Vogt

Christian Vogt, Jahrgang 1979 und promovierter Physiker, kombinierte seine Vorliebe für Naturwissenschaft und Schriftstellerei in Fantasy- und Science-Fiction-Welten. Gemeinsam mit seiner Partnerin Judith veröffentlichte er zahlreiche Romane, darunter den historischen Fantasykrimi Anarchie Déco , den Histo-Fantasy-Roman Schildmaid: der Lied der Skaldin sowie den hisotorischen Roman Ich, Hannibal. Mit Mutterentität erschien 2024 eine Solo-Novelle von ihm. Außerdem hat er als Spieldesigner bereits mehrere Pen&Paper-Erzählspiele veröffentlicht.