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Antisemitismus in der Fantasy-Literatur (Teil 1 von 2)

Coverausschnitt "Der Golem". Ein grau gezeichnete Laterne, in ihr steht eine rote Kerze, die Wachstropen sehen aus wie Bluttropfen.

Lennard Schmidt und Franziska Thurau, 06.03.2025

Seit dem 7. Oktober 2023, als Kämpfer der Hamas ein Massaker an über 1.000 jüdischen Israelis, Gastarbeitern und Touristen verübten, tritt der Antisemitismus in der Gesellschaft wieder sehr offen zu Tage. Doch in der so offenen und toleranten Phantastik und Fantasy gibt es doch sicher keinen? Oder doch? Lennard Schmidt und Franziska Thurau von der Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung zeigen uns, dass antisemitische Tropen im Genre weiter verbreitet sind, als die meisten von uns vermutlich glauben.

1. Einleitung

„Fantasy ist das Genre der infantilen Eskapisten.“ – Das behauptete zumindest der Literaturkritiker Terry Eagleton – und damit steht er nicht allein. Fiktion muss sich immer wieder den Vorwurf gefallen lassen, nur belanglose Unterhaltung, eine Ablenkung von der »echten Welt« zu sein. Und damit regelrecht gefährlich! 2016 forderte etwa der britische Schuldirektor Graeme Whiting, die Fantasy-Literatur deshalb zu verbieten, weil sie Schülerinnen und Schüler von den echten Problemen der »realen Welt« ablenke.

Doch das Verhältnis zwischen Realität und Fiktion ist weitaus komplexer, als es so manche/r engstirnige Kritiker:in begreift. Literatur ist nicht einfach »ausgedachte«, sondern verdichtete Wirklichkeit. Sie zeigt uns nicht nur ferne Traumwelten, sie ist auch ein Spiegel unserer tiefsten Ängste und Sehnsüchte und schafft deshalb Raum für allegorische Auseinandersetzungen - mit politischen Konflikten, tief verwurzelten Stereotypen und gesellschaftlichen Ressentiments. Und wenn ein Genre besonders eindrucksvoll demonstriert, wie sehr unsere Vorstellungswelt mit unserer realen Welt verflochten ist, dann ist es die Fantasy-Literatur.

Lange hat sich die Literaturwissenschaft stillschweigend darauf geeinigt, dass Fantasy-Literatur auf den Grabbeltisch oder in die Schmuddelecke an der Discounterkasse gehört. Schließlich, so die Annahme, was kann man schon Spannendes aus einem Genre lernen, in dem auf Drachen geritten wird (die paar Mediävist:innen)? Man hat die Interpretation der Werke den Nerds in ihren Dungeons-and-Dragons-Kerkern überlassen. Doch diese Zeiten sind vorbei. In den letzten Jahren sind immer wieder Artikel erschienen, die tief in das Genre eintauchen und fragen: Welche Weltbilder vermittelt Fantasy? Welche Stereotype werden weitergetragen?

Seitdem steht das Fantasy-Genre am Pranger: Schwarze Revolvermänner? Diskutabel. Rassistische Tentakelmonster? Problematisch. Und natürlich die großen Klassiker antisemitischer Bildwelten: raffgierige, langnasige, entwurzelte Kobolde, Hexen, Vampire und Zwerge.

Insbesondere die Diskussion über antisemitische Narrative in der Fantasy hat heftige Diskussionen unter Fans und Kritiker:innen ausgelöst. Kaum verwunderlich, ist der Antisemitismus doch keine Fußnote der Geschichte, sondern eine tödliche Realität unserer Zeit, wie unlängst die weltweite antisemitische Mobilisierung in Reaktion auf den 7. Oktober 2023 deutlich zeigt.

Bei der Gelegenheit: Was ist Antisemitismus eigentlich?

Antisemitismus ist mehr als nur ein Vorurteil gegenüber Jüd:innen. Er ist eine geschlossene Weltsicht, die sich über Jahrhunderte verfestigt hat und sich immer wieder an neue Gegebenheiten anpasst. Das Besondere daran ist, dass er vermeintlich widersprüchliche Sterotype über Jüd:innen miteinander vereint: Jüd:innen werden in antisemitischen Narrativen gleichzeitig als schwach und mächtig, als arm und reich, als Außenseiter:innen und als heimliche Strippenzieher dargestellt. Mal sind sie schuld am Kapitalismus, mal am Kommunismus. Diese Widersprüche sind gerade der Grund aus dem Antisemitismus so gut funktioniert: Jüd:innen lassen sich dadurch immer genau so konstruieren, dass sie als das »absolute Böse« im Denken des Antisemiten erscheinen, als ultimative Gegner der Gesellschaft, der politischen Ideologie des Antisemiten oder anderen Dingen, die ihm lieb und teuer sind. Und darin liegt auch die Attraktivität des Antisemitismus: Er bietet eine bequeme Erklärung für die Welt. Wer sich als Opfer von Ungerechtigkeit sieht, kann die Schuld immer auf eine vermeintlich allmächtige jüdische Macht projizieren – egal, ob es um Wirtschaft, Politik oder Kultur geht. Antisemitismus schafft Ordnung in einer chaotischen Welt, indem er eine klare, wenn auch falsche, Gegnerschaft konstruiert.

Der Antisemitismus stützt sich dabei nicht nur auf offene Feindbilder, sondern ebenso auf subtile kulturelle Codes, die über Jahrhunderte tradiert wurden. Viele dieser Bilder sind tief in die kollektiven Vorstellungen eingewoben – oft so sehr, dass sie nicht mehr bewusst als antisemitisch wahrgenommen werden. Genau hier setzt meine Untersuchung an: Nicht bei den Autor:innen, die zweifelsfrei Antisemit:innen waren und antisemitische Propaganda betrieben haben. Die grotesken Hetzfantasien eines Karl Hans Strobl, die antisemitischen Märchenwelten eines Julius Streicher oder die offen judenfeindlichen Karikaturen in der Literatur eines Hanns Heinz Ewers werden in dieser Auseinandersetzung keine große Rolle spielen oder nur am Rande Erwähnung finden.

Vielmehr interessiert mich, wo subtile Einflüsse antisemitischer Narrative bis heute nachwirken. Wie tief haben sich diese Muster in die Strukturen des Genres eingeschrieben? Und wie lassen sie sich aufbrechen?

Doch wer sich mit diesen Fragen beschäftigt, ruft auch Widerstand hervor. Plötzlich scheint kein Fantasy-Klassiker mehr über der Kritik zu stehen. Und wie immer, wenn liebgewonnene Werke hinterfragt werden, lässt der Backlash nicht lange auf sich warten. „Lasst unsere Fantasy in Ruhe!“, heißt es dann empört. Als würde schon die bloße Analyse antisemitischer Bild- und Worttraditionen die Legitimation eines ganzen Genres in Frage stellen. Aber genau das ist der Punkt: Kritik ist keine Zensur. Niemand will Tolkien oder Rowling „verbieten“. Aber wer über Fantasy spricht, muss auch über ihre problematischen Erzählmuster reden. Denn so viel ist klar: Erzählungen formen unsere Wahrnehmung der Welt. Wenn bestimmte Stereotype immer wiederkehren, dann tun sie das nicht zufällig. Sie prägen unser kulturelles Gedächtnis – ob wir es wollen oder nicht. Und das bedeutet: Wer sich mit Fantasy beschäftigt, muss sich auch mit ihren Schattenseiten auseinandersetzen.

Doch bevor wir loslegen – eine Warnung an alle Sais und Sohs, Schattenwandler:innen und Splitterklingenträger:innen: Hier wird es Spoiler geben. Manche für uralte Klassiker, manche für Neuerscheinungen. Aber mal ehrlich: Wenn Sie Joe Abercrombie bis jetzt noch nicht gelesen haben, dann sind Sie vielleicht selbst schuld.

2. Jüdinnen und Juden zwischen Emanzipation und Antisemitismus

»Jüd:innen kommen in der Fantasy doch kaum vor! Wie soll es dann eine antisemitische Tradition geben?« – Ein klassisches Argument, wenn es um problematische Darstellungen im Genre geht. Doch genau das ist das Paradoxe: Jüd:innen werden als explizite Figuren in der Fantasy selten benannt, aber ihre verzerrten Abbilder sind allgegenwärtig. Wo sind die jüdischen Held:innen, die sich natürlich in fantastische Welten einfügen? Wo sind die Geschichten, die jüdische Charaktere ernst nehmen, statt sie nur als exotischen Hintergrund oder als angsteinflößende Projektion zu nutzen?

Dabei ist es wichtig, zwei Mechanismen zu unterscheiden. Einerseits gibt es tatsächlich jüdische Symbole und Ideen, die von nicht-jüdischen Autor:innen missverstanden, angeeignet und transformiert wurden. Andererseits gibt es antisemitische Projektionen, die nie etwas mit jüdischer Kultur oder Geschichte zu tun hatten, sondern rein aus der Fantasie von Antisemit:innen stammen.

Ein Beispiel für den ersten Mechanismus ist das berühmte Wort Abrakadabra, das auf den hebräischen bzw. aramäischen Ausdruck Avra kehdabra (אֲבֶרָא כְּדֲבָרָא) zurückgeht und „Ich werde erschaffen kraft meiner Worte“ bedeutet. In der jüdischen Mystik ist Sprache zentral – G’tt schuf die Welt durch das Wort, und die Buchstaben des hebräischen Alphabets gelten als die Bausteine der Schöpfung. Diese Vorstellung hat die moderne Fantasy geprägt: Magier murmeln Zauberformeln, Runen besitzen Macht, Bücher bergen geheime Kräfte. Man stelle sich vor, Aslan der Löwe müsste einen Stepptanz aufführen, bevor er die versteinerten Opfer der Weißen Hexe heilt.

Doch während das Konzept der Sprache als schöpferische Kraft übernommen wurde, ist seine jüdische Herkunft fast vollständig unsichtbar geworden. Dasselbe gilt für den Golem. Ursprünglich eine kabbalistische Erzählung über das Verhältnis zwischen Mensch, Schöpfung und G’tt, wurde er in der modernen Fantasy zu einer allgemeinen Figur des „künstlichen Wesens ohne eigene Seele“. Während die jüdische Golem-Geschichte über Verantwortung und Grenzen der Macht reflektiert, wird das Motiv in der Fantasy oft trivialisiert: Der Golem wird entweder zur willenlosen Kampfmaschine oder zum gefährlichen Monstrum. All das sind Beispiele für jüdische Erzähltraditionen, die aus ihrer ursprünglichen Bedeutung herausgelöst und zu universellen Fantasyelementen umgedeutet wurden. Sie haben dabei ihre jüdische Identität verloren, wurden aber nicht per se antisemitisch.

Ganz anders verhält es sich mit dem zweiten Mechanismus: den antisemitischen Projektionen, die mit jüdischen Traditionen nichts zu tun haben, sondern nur die Ängste der Mehrheitsgesellschaft widerspiegeln. Hier geht es nicht um eine Aneignung jüdischer Motive, sondern um die Übertragung antisemitischer Denkstrukturen auf Fantasiewelten. Ein klassisches Beispiel ist der Mythos des „ewigen Juden“. Die christliche Legende konstruiert eine Figur, die verdammt ist, für immer durch die Welt zu ziehen – eine bösartige Verzerrung der jüdischen Diaspora, die den Jüd:innen selbst die Schuld für ihre Vertreibung gibt. Dieses Motiv taucht in der Fantasy immer wieder auf: ruhelose Zauberer, die niemals altern; mysteriöse Wissende, die über die Jahrhunderte hinweg im Verborgenen Pläne schmieden. Ein weiteres Beispiel ist die Vorstellung des „heimlichen Strippenziehers“, der aus dem Schatten heraus die Welt manipuliert. Diese Idee hat nichts mit realen jüdischen Traditionen zu tun, sondern wurde von Antisemit:innen konstruiert – und lebt in der Fantasy als Archetyp des „dunklen Zauberers“ weiter.

Gerade weil diese Bilder nicht mehr als explizit „jüdisch“ benannt werden, aber weiter existieren, entfalten sie ihre Wirkung: Sie wirken unterbewusst als „jüdisch“, ohne dass das Wort „Jude“ fällt. In einer Zeit, in der offener Antisemitismus gesellschaftlich geächtet ist, haben sich die Stereotype in neue Gewänder gekleidet: der gierige Bankier wird zum Kobold mit Goldschatz, der mächtige Magier mit geheimem Wissen trägt nun statt eines Judenhutes einen Zaubererhut. Diese Entwicklung ist kein Zufall. Während jüdische Figuren aus der Fantasy weitgehend verschwunden sind, haben sich die verzerrten Abbilder jüdischer Fremdzuschreibungen bis heute gehalten. Ein besonders absurdes Beispiel findet sich in Darren Aronofskys Film Pi (1998): Ein brillanter Mathematiker entdeckt eine geheime Weltformel – und wird prompt von einer Gruppe kabbalistischer Juden verfolgt, die glauben, damit mit G’tt kommunizieren zu können. Eine Mischung aus Mystik, Mathematik und Verschwörungsdenken, die direkt aus dem 19. Jahrhundert stammen könnte.

Es gibt also kaum jüdische Charaktere – aber viele jüdisch konnotierte Projektionen. Wer sich heute eine klassische Fantasywelt ansieht, findet überall Spuren von jüdischen Mythen und Erzählmustern. Doch diese Spuren wurden verzerrt oder in antisemitische Stereotype verwandelt. Der Golem wurde zur Monsterfigur, die jüdische Mystik zur dämonischen Geheimlehre, die Vorstellung von ruhelosen Wanderern zu mysteriösen Zauberern, die aus dem Schatten heraus die Geschicke der Welt lenken. Im Umgang mit Jüdinnen und Juden, insbesondere nach der Shoah, ist das kein unbekanntes Muster: Sie werden nicht (mehr) als lebendige Subjekte wahrgenommen, sondern nur noch als Symbole oder Mahnmale. In der Fantasy spiegelt sich genau das wider. Die jüdische Präsenz wurde nicht verdrängt, sondern in abstrahierte Abbilder umgewandelt. Jüd:innen tauchen in der Fantasy nicht als Figuren auf, sondern nur noch als Schatten einer langen Geschichte der Fremdzuschreibung.

Es ist an der Zeit, genauer hinzusehen.

3. Antisemitische Tropen in der Fantasy

Kein Film hat das junge Kinojahr 2025 so sehr beglückt wie Nosferatu von Brian Eggers. Die bildgewaltige Ästhetik und natürlich der wie üblich brillante Willem Dafoe sorgten für Begeisterungsstürme im Feuilleton und bei Horrorfans. Einziger Kritikpunkt war scheinbar der allzu ostentative Schnauzbart des Blutsaugers. Doch etwas ins Abseits geraten sind dabei andere Körpermerkmale des Vampirs, die sich nur allzu gut in eine lange Tradition einreihen. Denn kaum eine andere Kreatur der Fantasy trägt so viele antisemitische Stereotype in sich wie Graf Dracula.

Halten Sie das für weit hergeholt? Nur weil er krumme Beine, eine spitze Nase und verunstaltete Klauenfinger hat? Lassen wir Edward Cullen mal außen vor, denn im Allgemeinen entspricht die bloße Körperlichkeit des Vampirs jenen Darstellungen, die bereits im Mittelalter genutzt wurden, um Jüd:innen als körperlich deformierte Bedrohung zu skizzieren. Aber diese Merkmale finden sich ja nicht ausschließlich in antisemitischen Bildtraditionen wieder? Guter Einwand – doch der Vampir saugt bekanntermaßen auch Blut, eine Variation der Ritualmordlegende, nach der Jüd:innen angeblich christliche Kinder für rituelle Zwecke ermorden würden. Immer noch nicht deutlich genug? In Stokers Original rafft er in einer Szene gierig Goldmünzen auf. Er ist so gierig nach Gold wie nach Blut. Immer noch nicht deutlich genug? Dann kann ich Sie offenbar nicht überzeugen. Doch für manche war die Ästhetik schon damals leicht dechiffrierbar – sonst hätte Tod Browning in der Dracula-Verfilmung von 1931 wohl kaum das Bedürfnis verspürt, seinem Hauptdarsteller ohne jeden erzählerischen Bezug eine Davidsternkette umzuhängen.

Dass der Vampir eine ästhetisch und inhaltlich ambivalente Figur ist, die auch für emanzipatorische Narrative genutzt wurde, steht außer Frage. Doch auffällig bleibt, dass sich viele Interpretationen instinktiv auf seine antisemitischen Ursprünge beziehen. Das liegt daran, dass der Vampir nicht nur für das Andere oder das Fremde steht, sondern für die Gegenmoderne schlechthin. Er ist ein uralter Mythos, der sich kraft seines Wesens den Werten der Aufklärung widersetzt – kongenial übrigens in Polańskis Tanz der Vampire aus dem Jahr 1967 auf den Punkt gebracht – und er arbeitet als parasitäre Lebensform, die sich von Fleisch und Blut ernährt, ständig daran, die moderne Gesellschaft zu Fall zu bringen. Er ist der ultimative Verschwörer, weil er sich gegen das Leben selbst verschworen hat. Kein Wunder also, dass er immer wieder als antisemitische Karikatur in Stellung gebracht wurde, weil genau diese Vorwürfe auch immer wieder gegen Jüd:innen erhoben worden sind. Diese Bildsprache ist keineswegs veraltet – sie wird bis heute reproduziert. Auf der documenta 15 war auf dem berüchtigten peoples justice-Banner eine antisemitische Karikatur zu sehen, deren Darstellung frappierend an einen klassischen Blutsauger erinnerte. Ein weiteres Beispiel dafür, wie tief das Vampir-Motiv mit der Vorstellung vom »jüdischen Parasiten« und »Fortschrittsverweigerer« verschmolzen ist.

Doch nicht nur Vampire wurden mit antisemitischen Narrativen aufgeladen, auch eine andere klassische Fantasy-Gestalt trägt problematische Konnotationen: die Zwerge. Bereits Richard Wagners Ring des Nibelungen präsentierte Alberich, einen zwergischen Nibelungen, als hässlich, gierig und machtbesessen. Er stiehlt den magischen Ring, der ihm grenzenlose Macht verleiht – eine klassische Erzählung über den hinterhältigen, habgierigen Außenseiter, der sich der Welt bemächtigen will.

Und wo wir gerade bei Ringen sind: Auch Tolkien bezog sich in seiner Darstellung der Zwerge ursprünglich genau auf dieses Bild. Die Zwerge sind eine isolierte Gemeinschaft, die von der Mehrheitsgesellschaft mit Misstrauen betrachtet wird, sie leben abgeschottet und sehnen sich nach ihrer verlorenen Heimat – nach „Zion“. Moria ist ihr Zion, und die Vertreibung aus ihrer Heimat ein zentrales Motiv ihrer Geschichte. Das ist übrigens nicht nur eine Vermutung meinerseits, Tolkien selbst bezeichnete die Verbindung zwischen Juden und Zwergen als „obvious“.

Seiner Interpretation der Zwerge als »Jüdinnen und Juden« von Mittelerde lag ein antifaschistisches Ideal zugrunde. Er wollte die Zwerge aus einer antisemitischen Erzähltradition lösen – ein lobenswerter Anspruch, dem er jedoch nicht genügen konnte.

Noch in Die Kinder Húrins erinnert die Darstellung des Zwergs Mîm an Wagners Interpretation der Zwerge. Er ist habgierig und so boshaft, dass er sich die Vernichtung aller Menschen und Elben wünscht. In Der Herr der Ringe aber sind die Zwerge positiver und lebensbejahender gezeichnet. Sie sind zwar grummelig und eigen, kämpfen aber in letzter Konsequenz an der Seite der Menschen und Elben gegen Sauron. Gimli, der sich als Legolas´ Freund in der Geschichte besonders hervortut, darf am Ende seines Lebens mit den Elben in die Unsterblichen Lande Valinor segeln. Den anderen Zwergen bleibt diese Ehre aber verwehrt – keine Seele, kein Valinor, könnte man sagen. Oder aber auch: Noch jeder Antisemit kennt schließlich den einen »anständigen Juden«.

Tolkien reproduziert einerseits antisemitische Tropen, löst sie aber teilweise auf. Seine Darstellung der Zwerge bleibt widersprüchlich. Doch das Bild des gierigen, verschlossenen, machtbewussten Zwergs hat sich in der Fantasy festgesetzt – und radikalisiert sich in späteren Werken immer weiter. Besonders deutlich zeigt sich das in der Darstellung der Chaos-Zwerge aus Warhammer, die endgültig zur grotesken Karikatur werden: eine dämonische Brut, die plündern, foltern und ihre Opfer dem dunklen Gott Hashut opfern.

Überhaupt gibt es auffällig viele „böse“ Fantasykreaturen, die dazu neigen, alles und jeden zu entführen – besonders Kinder als Symbole der Reinheit und Unschuld. Wer erinnert sich in diesem Kontext nicht an sein liebstes Kindheitstrauma? Die Szene in Hexen hexen, in der sich die charmanten Damen ihrer Haut entkleiden und deformierte Füße offenbaren, die ganz eindeutig an Teufelshufe erinnern – ein Detail, das an mittelalterliche antisemitische Karikaturen erinnert. Auch ihr spitzer Hut ähnelt stark den sog. Judenhüten, die Jüd:innen im Mittelalter tragen mussten. Und wem das noch nicht deutlich genug ist, für den gibt es auch noch spitze Nasen und klauenbewehrte Hände. Ihr Ziel ist es, Kinder zu töten, sie von der Erde zu tilgen – eine Neuauflage der mittelalterlichen »Ritualmordlegende«, in der die Zeitgenoss:innen ihre transgenerationelle Angst vor dem Raub ihrer Kinder auf Jüdinnen projizierten.

In dieser Aufzählung antisemitischer Fantasykreaturen, die sich beliebig lange fortsetzen ließe, darf eine letzte Figur nicht fehlen, nämlich die, mit der die Diskussion über Antisemitismus in der Fantasy-Literatur ihren Anfang nahm: der Kobold aus Harry Potter. Seine Bildsprache erinnert an klassische antisemitische Stereotype: bankführend, besitzfixiert, langnasig und misstrauisch gegenüber der Mehrheitsgesellschaft. J.K. Rowling selbst hat vehement bestritten, dass die Kobolde antisemitisch konnotiert sind, doch wenn das tatsächlich so wäre, warum fügt man dann in Hogwarts Legacy der Lore um die Kobolde Detail hinzu, das den antisemitischen Kern noch unterstreicht, statt ihn aufzubrechen? Ohne dass es für die weitere Handlung von Bewandtnis wäre, planen die Kobolde die Entführung eines Kindes.

Dass antisemitische Erzählmuster immer wieder auftauchen, liegt nicht zwangsläufig an bewusster Absicht. Natürlich gab es überzeugte Antisemiten in der Literaturgeschichte – looking at you, Lovecraft – und man müsste in der (deutschen) Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts schon mit der Lupe nach Autor:innen suchen, die keine Antisemit:innen gewesen sind. Doch in den seltensten Fällen fußen heutige antisemitische Darstellungen auf der Absicht, antisemitische Propaganda zu betreiben. Im Gegenteil: Wie Rowling reagieren die meisten Autor:innen abwehrend auf eine Analyse, die antisemitische Traditionen in ihren Werken analysiert. Man selbst sieht sich schließlich immer als der oder die Gute.

Und was könnte diesen moralischen Status besser untermauern als die Auseinandersetzung mit dem ultimativen Verbrechen? Kaum ein anderes historisches Ereignis wurde in der Fantasy so oft reflektiert – oder instrumentalisiert – wie der Holocaust. Doch nicht jede literarische Verarbeitung trägt zur historischen Aufklärung bei. Viel zu oft wird er zu einer bloßen Metapher für das Böse stilisiert, die alle komplexen Zusammenhänge auf ein simples Gut-Böse-Schema reduziert.

Teil 2 des Artikels erscheint am Donnerstag den 13. März 2025. Darin geht es dann um die Darstellung des Holocausts, Verschwörungen und positive Gegenbeispiele.

Lennard Schmidt

Lennard Schmidt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung. Gemeinsam mit Salome Richter leitet er die Initiative als kollegiale Leitung. In seiner Dissertation untersucht er Antisemitismus in der 68er-Bewegung.

Franziska Thurau

Franziska Thurau studiert seit Oktober 2020 Klassische Archäologie und Geschichte (B.A.). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Genese des Antisemitismus in der vorchristlichen Antike sowie den Kontinuitäten antisemitischer Narrative von der Antike bis in die Gegenwart.

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