Science Fiction

Neongrau: Ein Interview mit Aiki Mira zum Hörspiel

Links eine Schwarze Person mit kurz geschnittenen Dreadlocks und hochgezogenem Jackenkragen. Rechts eine Person grellrotem längerem Haar auf der einen Kopfseite und einer kurz rasierten rechten Kopfhälfte. Computergeneriert, im Hintergrund Neonfarben
© WDR

Markus Mäurer, 27.02.2025

Zu den aufregendsten Science-Fiction-Romanen der letzten Jahr gehört Neongrau von Aiki Mira. Der WDR hat diese faszinierende Zukunftsgeschichte über Identität, Familie und Freiheit in ein Hörspiel umgesetzt. Dazu haben wir Aiki Mira und Regisseur Martin Zylka interviewt.

Kaum ein deutschsprachiger, nein, eigentlich überhaupt kein Science-Fiction-Roman hat mich in den letzten Jahren so sehr beeindruckt wie Aiki Miras preisgekrönter Neongrau (Kurd Laßwitz Preis). Gos (Stuntbois) Suche nach Identität und einem Platz in der Welt im Hamburg des Jahres 2112 hat vor allem auch auf der sprachlichen Ebene bei mir ein beeindruckendes futuristisches Kopfkino ausgelöst. So war ich als alter Hörspielfan ganz besonders erfreut, als Aiki mir erzählte, dass der WDR aus Neongrau ein Hörspiel machen möchte.

Jetzt ist es soweit. Seit gestern sind alle zwölf Folgen in der ARD-Audiothek kostenlos verfügbar. Weitere Infos gibt es beim WDR. Nach Folge 1 (die ich schon vorab hören durfte) war ich bereits schwer begeistert, wie dynamisch, plastisch, atmosphärisch und erfrischend das Ganze rüberkommt. Der Klangteppich ist eine Wucht, die Sprecher*innen sind großartig.

Aber wie läuft das eigentlich hinter den Kulissen ab, wenn ein Hörspiel aus einem Roman entsteht? Dazu habe ich Aiki Mira zur Arbeit am Skript befragt sowie Regisseur Martin Zylka, der uns Einblicke in die Hörspielproduktion liefert und erläutert, welche besonderen Herausforderungen Neongrau bot. 

Fragen an Aiki Mira

Tor Online: Hallo Aiki, magst du dich unseren Leser*innen vielleicht mit ein paar kurzen Worten vorstellen, und auch, worum es bei Neongrau geht?

Aiki Mira: Hallo Markus, sehr gern. Ich bin Aiki Mira und schreibe Science Fiction. Meinen Roman Neongrau durfte ich als Hörspielserie adaptieren. Roman und Serie handeln von Gaming, Tech-Konzernen, Widerstand und Familie, mittendrin die genderfluide Hauptfigur Go.

Wie lief der erste Kontakt zum WDR ab? Wer kam da auf dich zu? Und warst du direkt begeistert von der Idee?

A: Elena Zieser, freie Dramaturgin beim WDR, schrieb mich über Social Media an. Und ich habe mich mega gefreut! Anfangs aber gar nicht realisiert, dass ich an der Serie mitschreiben darf.

Gerade hier in Deutschland fanden die erste Begegnung mit dem Medium Hörspiel meist durch Kinderhörspiele statt (Stichwort Kassettenkinder). War das bei dir auch der Fall? Und falls ja, welche Hörspiele hatten es dir besonders angetan?

A: Zusammen mit meinen Geschwistern habe ich als Kind Märchenkassetten gehört, zum Einschlafen und fand die teilweise etwas gruselig. Science-Fiction-Hörspiele habe ich erst so richtig durch den Podcast „Das war Morgen“ kennen und lieben gelernt. Dabei bin ich auch zum ersten Mal der Arbeit von Eva Maria Mudrich  begegnet, einer preisgekrönte deutschen Hörspielautorin. Deren Science-Fiction-Stücke sind oft komplex, zugleich holen sie alles aus dem Medium Radio heraus. 

Wie erwähnt, hast du die Skripte zum Hörspiel selbst (mit)verfasst. Wie war es, die bereits erzählte Geschichte für ein anderes Medium neu aufzubereiten? Gab es da auch schmerzhafte Momente, wenn es um Kürzungen ging (Kill your Darlings)? Was gab es besonders zu beachten?

A: Genau, Martin Zylka, der auch die Regie macht, und ich haben das Skript gemeinsam verfasst. Einen Stoff für ein neues Medium zu adaptieren, erlebte ich so ähnlich wie die Übersetzung eines Textes in eine neue Sprache. Zu adaptieren grenzt ein, bietet aber auch Raum für neue kreative Entscheidungen und am Ende entsteht etwas Bekanntes, Neues. Kürzungen und Kill your Darlings kenne ich aus dem Lektorat, das ist kein Problem für mich, weil ich genau dafür das Lektorat so schätze. Neu für mich war das gemeinsame Schreiben. Für jede geschriebene Folge gab es zudem Feedback-Runden mit Elena Zieser und Christina Hänsel. Für mich ein ganz anderes Schreiben als bisher. Ein bisschen so, wie ich mir die besten Writers Rooms vorstelle: sehr engagiert, wertschätzend, kooperativ und gegenseitig inspirierend. Mit anderen Personen so intensiv über das Innenleben der Figuren oder den Weltenbau zu diskutieren, hat mich außerdem sehr bewegt. Eine wertvolle neue Schreiberfahrung auch deshalb, weil ich die Besonderheiten des Mediums Radio kennengelernt habe.

Es ist ja schon einige Zeit her, dass du Neongrau geschrieben hast und es erschienen ist. Wie war es, nach so langer Zeit und einigen neuen Romanen dazwischen, wieder an der Geschichte zu arbeiten? Gab es auch Dinge, bei denen du gedacht hast: »Oh, das würde ich heute aber anders machen«. Und hast du es fürs Hörspiel anders gemacht?

A: Durch den zeitlichen Abstand habe ich mit frischen Augen auf den Stoff geschaut und mich sehr frei gefühlt Szenen und Figuren loszulassen oder zu verändern. Mein Ziel war zusammen mit Martin eine spannende und vielleicht auch etwas andere Hörspielserie zu schreiben und zugleich wie die Hörspielautorin Mudrich das Medium voll auszuschöpfen. Dafür habe ich gern alles getan, was nötig war: also auch Szenen weggelassen, dafür neue Szenen oder Dialoge geschrieben oder Schnitte anders gesetzt. Zugleich waren mir die Figuren und die Welt immer noch sehr nah und ich habe mich gern damit auseinandergesetzt.

Welche Chancen und Vorteile siehst du in einer Hörspielumsetzung der Geschichte? Welche neuen Möglichkeiten eröffnen sich dadurch?

A: Mich interessiert Sprache und im Hörspiel können sich Figuren durch ihre Sprache und ihr Sprechen noch mal ganz anders zeigen. Das ist wie Musik, die nicht mehr beschrieben, sondern endlich hörbar wird. Dadurch werden Figuren und ihre Welten anders lebendig. Ich kann jetzt Ren Kazumi schimpfen hören und sobald Ctrl spricht, ahne ich, mit ihm stimmt etwas nicht. Alle Sprecher*innen haben mich immer wieder sehr begeistert! Durch die vielen verschiedenen Soundschichten wird zudem die Neongrau-Welt neu erfahrbar: U-Bahn-Durchsagen, Vögel, Schiffe. Selbst das Neurosubstrat ist hörbar. Es gibt so viele kleine Sound-Details, um alles mitzubekommen können Folgen locker mehrmals gehört werden. Die opulente Soundkulisse überwältigt, wie auch diese Neongrau-Zukunft überwältigt.

Du arbeitest in Neongrau ja unheimlich viel und gekonnt mit Sprache, mit neuen Begriffen und Slang-Ausdrücken, um diese diverse, digitale Zukunft plastisch zum Leben zu erwecken. Wie konnte das ins Hörspiel transferiert werden? Was gab es da zu beachten?

A: Zunächst war ein sehr gutes Casting wichtig: Viele der Sprecher*innen beherrschen mehrere Sprachen oder sind sogar mehrsprachig aufgewachsen. Außerdem bringen sie vielfältige Berufserfahrungen mit, haben vorher bereits im Theater, beim Film, in der Musik (Rap!) gearbeitet. Live im Studio dabei zu sein und zu hören, wie die Sprecher*innen erfundene Begriffe und Slangs wirklich verkörpern – das waren für mich die großen Gänsehaut-Momente! Zweitens braucht es eine sehr gute Regie. Martin hat mit den Sprecher*innen noch im Studio an Dialogen gefeilt. Für die Sprecher*innen war das eine besondere Herausforderung: sie mussten sich in kürzester Zeit nicht nur in eine fremde Rolle hineinfinden, sondern auch in eine fremde Sprache und diese dann so sprechen, als wäre es ihre eigene. Mehrsprachigkeit, vielfältige Schauspielerfahrungen und Begeisterung fürs Hörspiel kamen da immer wieder zusammen. 

Was war es für ein Gefühl, deine Geschichte dann als fertiges Hörspiel erstmals zu hören?

A: Oh, das war sehr emotional für mich. An so einer Serie arbeiten so viele Menschen und das auch noch so lange Zeit! Wenn ich also Neongrau höre, dann höre ich die Arbeit von all diesen Menschen, die zusammengekommen sind, Zeit und Mühe aufgewendet haben, um einen Text bestmöglich umzusetzen – das beeindruckt mich, das finde ich unglaublich schön und besonders.

Welche Projekte stehen bei dir als nächstes an? Falls du dazu schon was sagen kannst.

A: Gerade habe ich das Manuskript für meinen neuen Roman fertiggestellt zu Themen wie Hyperkapitalismus und die Stadt Frankfurt und jetzt freue mich auf das Lektorat und darauf daran weiterzuarbeiten.

Vielen Dank für das Interview!

A: Sehr gern! Ich danke dir!

Fragen an Regisseur Martin Zylka

Wie wichtig war es, trotz der fernen Zukunft noch Hamburger Lokalkolorit unterzubringen? Ich meine, Möwen und einen Hamburger Akzent gehört zu haben.

MZ: Aiki war es von Anfang an sehr wichtig, dass wir keine amerikanische Geschichte erzählen. Das Science-Fiction-Genre ist sonst fest in anglo-amerikanischer Hand. Deswegen wollten wir dagegenhalten und haben das Setting bewusst in Hamburg angesiedelt. Die große Firma, die das Gaming und viele andere Bereiche des öffentlichen Lebens beherrscht wird auch deutsch „Zone“ ausgesprochen und nicht amerikanisiert. Und ja, auch trotz der hohen Diversifikation der Bevölkerung hat sich in der Zukunft auch immer noch das „Hamburgische Lokalkolorit“ erhalten.

Welche Herausforderungen gab es bei der Umsetzung des Romans? Was hat besonders Spaß gemacht?

MZ: Es ist klar, dass das Buch viel mehr Platz bietet, um die Geschichte zu erzählen, als die Hörspielserie. Deswegen ist es immer das Schwierigste, den Figuren im Hörspiel genug psychologische Tiefe zu geben, obwohl man auf ganz viele Aspekte, die nur im Buch Platz haben verzichten muss. 

Das Spannendste war die Umsetzung des Gamings, weil wir da akustisch mal alles geben konnten. Interessanterweise wird nie erzählt, worum es bei diesen Games überhaupt geht oder wie sie konkret funktionieren. Letztlich handelt es sich dabei um viele einzelne Versatzstücke, die uns aus dem realen Gaming-Kontext bekannt vorkommen und die wir hier ge-remixt haben. Das hat tatsächlich großen Spaß gemacht.

Episode 1 ist von einem schönen Klangteppich unterlegt, der das ganze tatsächlich futuristisch wirken lässt. Was ist das Konzept dahinter? Und wie ist es gelungen, das Neurosubstrat auditiv umzusetzen?

MZ: Das Science-Fiction-Genre hat immer die Aufgabe, eine zukünftige Welt zu erfinden. Dabei ist es immer schwierig, gänzlich Neues und Unbekanntes einzuführen, das nicht explizit erklärt wird. Besonders im rein akustischen fehlt uns die Möglichkeit - durch visuelles Design und Effekte - Dinge „zukünftig“ aussehen zu lassen. Wir müssen daher auf bekannte Atmosphären und Geräusche zurückgreifen, die einerseits erkennbar und selbsterklärend sind, um sie dann mit Effekten und musikalischen Sounds "zukunftsfähig“ zu machen. Das Neurosubstrat ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie unser Toningenieur Matthias Fischenich Unterwassersounds genommen hat und mit verschiedenen Filtern so verändert, dass eine klaustrophobische Ingame-Stimmung entsteht, die die Gamer völlig isoliert in ihren Anzügen und Atemmasken abbildet. Diese Szenen sind mit Sicherheit die Highlights der akustischen neuen Welt.

Natürlich spielen die Musik und das musikalische Design eine entscheidende Rolle. Ich finde es deshalb grandios, dass wir Tobias Vethake (Sickerman) dafür gewinnen konnten, an diesem Projekt teilzunehmen, weil sich seine Musik immer schon in einem dystopischen Bereich bewegt. Meiner Meinung nach passt seine Musik kongenial zu Aikis Geschichte.

Gerade bei Hörspielen gab es in den vergangenen Jahrzehnten viele unrühmliche (teils sicher ihrer Zeit geschuldeten), unpassenden Darstellungen von Figuren mit asiatischem oder anderem diversem Hintergrund (z. B. akustisches Yellowfacing). Was haben Sie bei dieser Produktion unternommen, damit so etwas nicht vorkommt und die kulturelle Vielfalt der Geschichte sich auch in den Stimmen auf angemessene Weise widerspiegelt?

MZ: Schon seit längerem ist es beim WDR-Hörspiel üblich, der zunehmenden Diversität in unserer Gesellschaft Rechnung zu tragen, indem wir auch verstärkt bei den Besetzungen der Schauspieler/innen auf Diversität achten. Deshalb ist es auch folgerichtig, dass wir bei Figuren aus anderen Kulturkreisen auf Schauspieler/innen setzen, die aus diesen Regionen kommen oder einen besonderen Bezug dazu haben.

An dieser Stelle hat sich auch noch Stefan Cordes zur Besetzung geäußert, der für das Casting zuständig war.

SC: Wir haben viel Zeit in die Besetzung investiert, viel recherchiert und in einzelnen Fällen auch kleine Castings und Probeaufnahmen gemacht, was nicht unbedingt im Hörspiel üblich ist. Das war sehr schön und hat sich gelohnt, denn es gibt sie ja, die tollen vielfältigen Stimmen. Und so schwer zu finden, sind sie nun auch nicht. Außerdem kam uns zugute, dass wir ja eine Zukunftsvision zum Leben erwecken durften und wir uns nicht für jeden Akzent, den eine bestimmte Rolle hat, fragen mussten, ob das nun realistisch oder womit das begründet sei, was immer noch sehr häufig in Manuskripten und bei der Besetzung passiert.

Wie genau sieht eigentlich die Arbeit als Regisseur bei einem Hörspiel aus? Unterscheidet sich das von der Arbeit an einem Film oder am Theater?

Martin Zeller: Regie hat immer die Aufgabe, eine ausgedachte Geschichte zum Leben zu erwecken. Das haben alle Medien gleich. 

In einem durchschnittlichen Stunden-Hörspiel haben wir 3 Tage Arbeit mit den Schauspielern/innen. Danach haben wir noch 7-8 Tage reine Postproduktion. Ich finde, dass die Regiearbeit beim Hörspiel einer kompositorischen Tätigkeit sehr ähnelt. Wir haben Sprache, Geräusche, Musik, Klänge, Atmosphären, die wir nicht nur nach psychologischen, sondern auch nach musikalischen Kriterien anordnen. Rhythmus, Dichte, Dynamik, Pausensetzung - all das sind letztlich musikalische Kriterien, wie wir unsere Arbeit angehen. 

Sie finden sich allerdings auch in jeder Kunstform -sogar der Malerei- wieder.

Sie haben zuvor schon mit Die drei Sonnen bzw. der Trisolaris-Trilogie von Cixin Liu ein Science-Fiction-Hörspiel produziert. Welche Herausforderungen stellen sich in diesem Genre besonders? Und welche gab es speziell bei Neongrau

MZ: Bei Cixin Liu war die Schwierigkeit, komplexe physikalische Zusammenhänge zu veranschaulichen. Die Trisolaris-Trilogie setzt auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse auf und dreht diese weiter. Insofern war die Herausforderung hierbei, die Rettung der Erde und des Sonnensystems auf komplexe und einfache Art zugleich zu erzählen.

Bei Neongrau stehen die Figuren mehr im Vordergrund. Probleme der Identität und Selbstfindung spielen eine große Rolle. Insofern sehe ich diesen Stoff auch eher bei einer etwas jüngerem Publikum.

Gibt es weitere Projekte im Bereich der Science Fiction, die Sie in Zukunft gerne umsetzen möchten? Liegt da schon was Konkretes vor?

MZ: Leider liegt nichts vor. Aber ich habe mit Vergnügen Death of the Author von Nnedi Okorafor gelesen.

Vielen Dank für das Interview!

Neongrau beim WDR mit Hintergründen und Infos

Neongrau in der ARD-Audiothek

Ihr könnt das Hörspiel auch ganz einfach über die App der ARD Audiothek auf dem Smartphone hören.

Aiki Mira
© Miguel Ferraz

Aiki Mira

Aiki Mira lebt in Hamburg und in der Science-Fiction.  Neben Romanen, Kurzgeschichten und Essays verfasste Aiki Mira das Queer*SF Manifest,  das z.B. auf Tor Online erschien.  Kurzgeschichten von Aiki Mira wurden mehrfach ausgezeichnet u.a. mit dem Deutschen-Science-Fiction-Preis. 
 
die Romane Neongrau und Neurobiest gewannen 2023 und 2024 den Kurd Laßwitz Preis. Von der European Science Fiction Society erhielt Aiki den Chrysalis Award.
 

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