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Antisemitismus in der Fantasy-Literatur (Teil 2 von 2)

Coverausschnitt von "Die Bücherdiebin". Zeichnung: Der Tod tanzt mit einem Mädchen an der Hand.

Franziska Thurau und Lennard Schmidt, 13.03.2025

Nachdem es in Teil 1 um antisemitische Tropen in der Fantasy ging, widmet sich Teil 2 der Darstellung des Holocausts, Verschwörungen und positiven Gegenbeispielen. Erklärt, wie grauenvolle reale Ereignisse in Fantasywelten verarbeitet werden und karikaturhafte Bösewichte zur Verhamlosung beitragen, die Fantasy aber auch dafür geeignet ist, überholte Erzählmuster zu brechen.

Der Artikel enthält Spoiler zur Metro-Reihe von Dmitri Gluchowski, zur ursprünglichen Klingen-Trilogie von Joe Abercrombie, zu Der dunkle Turm von Stephen King und der Anime-Serie Attack on Titan.

1. Der Holocaust in der Fantasy-Literatur – eine Polemik

Zu Beginn eine Frage: Warum fühlen sich so viele Autor:innen bemüßigt, den Holocaust zu thematisieren? Ob als direkte historische Referenz – etwa in X-Men, wo Magneto als Holocaust-Überlebender zum Schurken wird, oder in Die Bücherdiebin, in der der Holocaust durch das Prisma einer jungen Deutschen erzählt wird, in die sich der Tod selbst verliebt – oder als Allegorie, die das Grauen des Holocausts auf fantastische Welten überträgt.

In vielen dieser Welten gibt es eine symbolische Entsprechung für Verfolger und Verfolgte, für Täter und Opfer. In Sapkowskys Witcher-Saga etwa nehmen die Elfen und Zwerge diese Rolle ein. Sie werden aus ihren angestammten Gebieten vertrieben, in Ghettos gesperrt und stehen kurz vor der Auslöschung – nicht etwa wegen konkreter politischer oder strategischer Entscheidungen, sondern allein aufgrund der irrationalen Angst der Menschen vor ihrer „Andersartigkeit“. Ähnlich verhält es sich mit den Skaa in Sandersons Mistborn, den unterjochten Stämmen des Imperiums in The Broken Empire von Mark Lawrance oder den Speerlies in The Poppy War von R. F. Kuang.

Der Holocaust dient hier als Blaupause für die Darstellung systematischer Verfolgung – mal mit bewusster Anlehnung, mal als unreflektiertes Muster. Es scheint fast so, als sei die Holocaust-Metapher ein erzählerischer Reflex geworden, eine Art literarischer Standard, an dem sich die Darstellung von Unterdrückung orientiert. Doch warum eigentlich? Warum wird der Holocaust so häufig als erzählerischer Bezugspunkt herangezogen – und was bedeutet das für unser Verständnis von Geschichte und Erinnerung?

Nicht, dass es keinen Anlass dafür gäbe: Der Holocaust ist das Zivilisationsverbrechen schlechthin. Eine literarische Auseinandersetzung damit ist nicht nur legitim, sondern notwendig. Doch hier liegt der Warg begraben: Wer sich des Holocaust als Erzählmotiv bedient, trägt die moralische und intellektuelle Verantwortung, es mit Sorgfalt zu tun. Sonst passiert, was viel zu oft geschieht: Der Holocaust wird nicht in seiner historischen und politischen Spezifik begriffen, sondern als vage Referenz, als Schablone für ultimative Bosheit verwendet – oder schlimmer noch, als Verschwörungserzählung.

Dass die Thematisierung des Holocaust eher zur Ver- als zur Erklärung seiner Ursachen, Dynamiken und Motive beiträgt, beginnt oft bereits damit, wie die Nazis – oder eben die entsprechende Fantasy-Variante der Nazis – dargestellt werden.

Nazis sind die bequemsten Bösewichte, die sich ein Autor oder eine Autorin vorstellen kann. Keine Fraktion kann man mit weniger Skrupeln verprügeln, erschießen oder in die Luft jagen. Das Problem: Viel zu oft werden Nazis auf eine reine ästhetische Bedrohung reduziert, während ihre Ideologie völlig entkernt wird.

Beispiele dafür gibt es unzählige: Hellboy, Indiana Jones, Wolfenstein – überall sind Nazis nicht etwa antisemitische Ideologen, sondern finstere Strippenzieher, die sich mit Dämonen, dunkler Magie oder okkulten Mächten verbünden oder wahlweise wahnsinnige Knallchargen mit absurden Welteroberungsplänen. Nazis sind keine Menschen mehr, sondern groteske Karikaturen des Bösen.

Das mag gut gemeint sein – aber es führt zu einem paradoxen Effekt:
Je dämonischer Nazis dargestellt werden, desto weniger setzt man sich mit ihren realen Gedanken auseinander. Ihre Ästhetik wird endlos kopiert – dunkle Uniformen, finstere Symbole, markige Reden –, doch ihr Inhalt verschwindet dahinter. Diese Dämonisierung macht es leicht, sich von ihnen zu distanzieren, denn sie sind dann keine reale Gefahr mehr, sondern nur noch Märchenfiguren. Und genau dadurch werden sie harmlos.

Wenn Nazis zu reinen Symbolen für das Böse werden, was bleibt dann für ihre Opfer? Meistens nicht viel. Der Holocaust wird in vielen Werken als Kulisse für die moralische Läuterung der Figuren genutzt – während jüdische Figuren oft als passive Märtyrer erscheinen, die der Geschichte keinen eigenen Antrieb geben.

Bestes Beispiel: Das bereits erwähnte Die Bücherdiebin.
Die Geschichte spielt im Dritten Reich, es gibt einen jüdischen Flüchtling namens Max, doch das eigentliche Drama dreht sich um das deutsche Mädchen Liesel und ihre Entwicklung. Max ist passiv. Er bleibt im Keller, wartet, hofft – aber er handelt nicht. Der Holocaust wird nicht als Geschichte jüdischer Verfolgung erzählt, sondern als Geschichte deutscher Moralität.

Das ist ein Muster, das sich oft wiederholt: Jüd:innen existieren in vielen Holocaust-Erzählungen nur als symbolische Opfer. Ihre Perspektive bleibt ausgeblendet, ihr Handeln ist irrelevant – ihr Leid dient einzig dazu, den moralischen Ernst der Erzählung zu unterstreichen. Und weil sie nicht mehr als Marker sind, interessieren sich die Autor:innen auch nur sehr selten dafür, warum sie überhaupt verfolgt werden. Ihre Gegner sind eben böse, das heißt rassistisch, das heißt auch irgendwie antisemitisch. So genau weiß man das aber auch nicht – oder möchte es auch nicht wissen. Was aber die Nazis in ihrem Wahn antrieb, war eben nicht ihre moralische Verkommenheit, sondern Antisemitismus. Und der zeichnet sich in seiner eliminatorischen Spezifik dadurch aus, dass er weit mehr ist als »Rassismus gegen Juden«. Es wäre die Aufgabe der Autor:innen, das zu reflektieren und künstlerisch zu verarbeiten.

Noch problematischer wird es, wenn Holocaust-Allegorien eine perfide Wendung nehmen – und die Opfer am Ende als eigentliche Täter dargestellt werden. Immer wieder tauchen in der Fantasy-Erzähltradition Figuren auf, die zunächst als unterdrückte, marginalisierte Gruppen inszeniert werden, sich dann aber als existenzielle Bedrohung entpuppen. Besonders auffällig ist dieses Muster im Manga/Anime Attack on Titan.

Die Eldia, die in Ghettos gesperrt, mit Armbinden markiert und systematisch unterdrückt werden, sind zunächst klar als Holocaust-Allegorie angelegt. Der Antisemitismus-Vergleich liegt nahe: Eine Gemeinschaft wird als unberechenbare Gefahr konstruiert und von der Mehrheitsgesellschaft mit Gewalt unter Kontrolle gehalten. Doch je weiter die Geschichte voranschreitet, desto mehr verschiebt sich das Bild. Am Ende der Erzählung stellt sich heraus, dass die Eldia tatsächlich die ultimative Bedrohung für die gesamte Menschheit sind. Eren Jäger, die zentrale Figur der Serie, entscheidet sich, die Weltbevölkerung fast vollständig auszulöschen, indem er die Titanen entfesselt. Die Implikation ist nicht zu übersehen: Der Verdacht, dass die Eldia eine Bedrohung darstellen könnten, war letztlich nicht unbegründet. Ihre Verfolgung, ihre Ghettosierung, ihre systematische Entrechtung – all das erscheint nachträglich in einem anderen Licht. Die Geschichte suggeriert: Vielleicht hatten die Unterdrücker ja doch recht.

Dieses Muster ist nicht nur erzählerisch problematisch, sondern auch gefährlich, weil es reale Diskriminierungsideologien spiegelt. Antisemitische Verschwörungsmythen haben seit Jahrhunderten behauptet, dass Jüd:innen insgeheim an der Vernichtung der nichtjüdischen Welt arbeiten würden. Genau dieses Bild – eine verfolgte Minderheit, die sich schließlich als existenzielle Bedrohung entpuppt – wiederholt sich in diesen Fantasy-Erzählungen. Die angeblich kritische Auseinandersetzung mit Faschismus und Unterdrückung endet hier in einer Täter-Opfer-Umkehr: Die Opfer erweisen sich als die eigentlichen Täter, ihre Unterdrückung wird im Nachhinein als präventive Notwendigkeit dargestellt. Eine beunruhigende Erzähltradition, die mehr über unreflektierte Narrative im Geschichtsbewusstsein verrät, als den meisten Autor:innen vermutlich bewusst ist.

Der eigentlich kritische Impetus wird hier geopfert für eine billige Verschwörungsgeschichte, die die Komplexität der realen wie fantastischen Welten ad absurdum führt. Und daran schließt sich die Frage an: Warum zum Teufel eigentlich immer diese Verschwörungen?

2. Verschwörungen

Kennen Sie das? Die Enttäuschung, die sich einstellt, wenn ein großartiger Fantasy-Roman nicht so endet, wie man sich erhofft hat? Nicht etwa, weil das Ende dem persönlichen Geschmack nicht genügt, sondern weil eine zuvor vielschichtige und komplexe Handlung am Ende darauf hinausläuft, dass alles nur eine große Verschwörung war.

Nehmen wir Metro 2033. In Dmitry Glukhovskys düsterer Endzeitvision haben sich die Menschen nach einem Atomkrieg in die U-Bahnschächte Moskaus zurückgezogen und dort ein politisches Biotop errichtet. Die verschiedenen Gruppierungen sind dabei nicht nur simple Abziehbilder bekannter Ideologien, sondern mit überraschender Tiefe und Ambivalenz gezeichnet. Von den militanten Kommunisten der Roten Linie über die bigotten Faschisten des Vierten Reichs bis hin zu libertären Separatisten, die sich aus allem heraushalten wollen – das Metro-Universum wirkt glaubwürdig, weil es nicht nur plump Gut gegen Böse spielt, sondern weil es den Leser:innen eine Welt präsentiert, die von realen politischen Konflikten durchzogen ist. Eine Welt, die kompliziert ist, in der es keine einfachen Antworten gibt. Oder besser gesagt: Eine Welt, die eigentlich kompliziert sein sollte – bis Glukhovsky im dritten Band alles über den Haufen wirft. Denn plötzlich ist es mit den politischen Widersprüchen vorbei. Die verschiedenen Gruppen, mit all ihren Widersprüchen und Differenzen, werden als bloße Marionetten enttarnt, gesteuert von einer geheimen Elite, die sich im Luxus eines Luftschutzbunkers eingerichtet hat und von dort aus das Chaos lenkt. Der politische Konflikt, der vorher so nuanciert schien, löst sich damit in Luft auf – denn er war gar nicht echt. Die wahren Schuldigen waren die Strippenzieher im Hintergrund.

Ein noch frappierenderes Beispiel ist Joe Abercrombies First Law-Reihe. Über weite Strecken entfaltet sich hier eine Fantasywelt, die sich lebendig, chaotisch und glaubwürdig anfühlt. Charaktere mit nachvollziehbaren Motiven streiten um politische Macht, ringen mit inneren und äußeren Konflikten, kämpfen in Kriegen, deren Ursachen vielschichtig sind. Bis zum Ende. Dann offenbart sich, dass der allwissende Magier Bayaz seit Jahrhunderten alles aus dem Hintergrund lenkt. Was zunächst als ein chaotisches Geflecht aus persönlichen Ambitionen und politischen Konflikten erschien, erweist sich als bloße Fassade – die eigentliche Geschichte ist das ewige Duell zwischen Bayaz und seinem ebenso omnipotenten Gegenspieler. Und das Problem ist nicht einmal nur, dass Bayaz im Hintergrund die Fäden zieht. Das Problem ist, dass die Figuren, die sich als handelnde Subjekte bewährt haben, in Wirklichkeit nur Spielfiguren eines größeren Spiels waren, in dem sie nie eine Chance hatten, wirklich zu agieren.

Man könnte argumentieren, dass genau das die Pointe ist: Wir sind alle einem korrupten, übermächtigen System ausgeliefert. Klingt nach tiefsinniger Gesellschaftskritik – ist es aber nicht: In dieser Logik wird das „Böse“ nicht aus dem Handeln realer Menschen geboren, sondern ist eine äußere, übermenschliche Kraft, eine dunkle Kabale im Hintergrund. Und – was noch problematischer ist – die Lösung liegt dann nicht in politischer oder moralischer Auseinandersetzung, sondern in der Eliminierung dieser verborgenen Macht.

Diese Vorstellung ist verlockend, weil sie eine einfache Erzählstruktur bietet. Sie macht es leicht, Spannung zu erzeugen, eine Enthüllung vorzubereiten und am Ende einen klaren Konflikt zu inszenieren. Aber sie macht die Welt auch klein. Die Vorstellung, dass das Unrecht der Welt durch eine kleine, unsichtbare Gruppe verursacht wird, ist ein zutiefst autoritäres Denken. Sie reduziert die Komplexität der Realität auf einen simplen Kampf zwischen Unterdrückten und einer Elite, die es nur zu entlarven gilt. Und sie greift auf eine antisemitische Erzähltradition zurück, die älter ist als die moderne Fantasy selbst.

Die Logik der Verschwörungserzählung ist dabei immer dieselbe: Die Welt ist nicht, wie sie scheint. Eine geheime Gruppe von Menschen kontrolliert alles aus dem Hintergrund. Der wahre Feind ist nicht sichtbar – aber wenn er enthüllt und beseitigt wird, kann alles gut werden. Diese Struktur ist nicht nur ein erzählerisches Muster – sie ist seit Jahrhunderten das Fundament antisemitischer Ideologie. Von den Protokollen der Weisen von Zion über Nazi-Propaganda bis hin zu modernen Verschwörungserzählungen über „globale Eliten“ funktioniert der Antisemitismus genau nach dieser Logik.

Die Fantasy bedient sich dieses Musters oft unbewusst – aber genau das macht es so problematisch. Wie oft endet eine Geschichte damit, dass die geheime Elite entlarvt und dann ausgelöscht wird? Wie oft wird eine komplexe Welt plötzlich auf eine simple Erzählung von Unterdrückern und Strippenziehern reduziert? Und wie oft glauben wir eigentlich selbst an solche Erzählungen, weil sie uns die Welt einfacher machen?

Es ist kein Zufall, dass eine der bekanntesten antisemitischen Fantasyfiguren, der Svengali aus George du Mauriers Trilby, genau nach diesem Muster funktioniert. Der jüdische Hypnotiseur kontrolliert seine Umgebung durch dunkle, unsichtbare Kräfte und macht seine Opfer zu willenlosen Marionetten. Er verkörpert damit genau das Bild, das sich durch die gesamte europäische Verschwörungsfantasie zieht: der Jude als unsichtbarer Strippenzieher, der aus dem Hintergrund die Fäden zieht.

Es ist leicht, sich über solche Figuren als „überholte Karikaturen“ lustig zu machen. Aber wie viel hat sich eigentlich verändert? Warum kehrt diese Erzählung in der Fantasy immer wieder? Und warum ist sie so verdammt verführerisch?

Ein Grund ist, dass sie ein einfacher erzählerischer Trick ist, um Leser:innen ein Gefühl von Macht zu geben. In der Realität sind wir oft machtlos gegenüber Systemen, die größer sind als wir selbst. In einer Verschwörungsgeschichte aber können wir die Wahrheit erkennen. Wir können handeln. Wir können die Strippenzieher entlarven. Antisemitische Erzählungen funktionieren nach demselben Prinzip. Sie geben ihren Anhängern die Illusion, das große Ganze durchschaut zu haben, Teil einer wissenden Minderheit zu sein und sich eine vermeintliche Handlungsmacht zurückzuerkämpfen. Aber genau das macht sie so gefährlich.

Dass es auch anders geht, zeigt zum Beispiel Snowpiercer. Hier wird die Unterdrückung nicht als ein einziger Bösewicht inszeniert, den man am Ende enthüllen und vernichten kann – sondern als ein System, das nur durch harte Arbeit und echte gesellschaftliche Veränderung überwunden werden kann. Auch Stephen King spielt in Der dunkle Turm mit Verschwörungsmotiven, nur um sie am Ende zu dekonstruieren. Der übermächtige Scharlachrote König ist kein omnipotenter Strippenzieher, sondern ein alter, wahnsinniger Mann. Das wahre Problem ist nicht ein allwissendes Böses im Hintergrund, sondern die Tragik der menschlichen Natur selbst.

Gute Fantasy erkennt, dass das Böse weder durch eine Enthüllung verschwindet, noch durch die Eliminierung einer Elite. Es bleibt eine Herausforderung, eine Frage der Gesellschaft, eine Frage der Verantwortung.

Denn wenn es eine Sache gibt, die die Fantasy uns lehren kann, dann ist es, dass wahre Veränderung nicht durch Enthüllungen kommt. Sondern durch Handeln.

3. Gibt es positive Gegenbeispiele?

Dass Fantasy sich immer wieder antisemitischer Erzählmuster bedient, ist kein Naturgesetz. Die Vorstellung, das Genre sei zwangsläufig dazu verdammt, alte Ressentiments zu wiederholen, ist falsch – und wird von zahlreichen Autor:innen widerlegt. Fantasy kann auch intelligent mit jüdischer Repräsentation umgehen, kann Verschwörungserzählungen kritisch reflektieren und Wege aufzeigen, wie man historische Erzähltraditionen bewusst dekonstruiert.

Ein guter Anfang ist dabei bereits, jüdische Figuren nicht als Allegorien oder Karikaturen zu inszenieren, sondern sie als normale Menschen zu schreiben. Sie müssen keine mystischen Gelehrten, keine verschlagenen Bankiers oder uralten Strippenzieher sein – sie können einfach existieren. Und wenn ihr Jüdischsein eine Rolle spielt, dann nicht als bloßer Marker für „Andersartigkeit“, sondern als Teil ihrer Identität.

Ein Beispiel für diese gelungene Repräsentation ist Sol Weintraub in Dan Simmons’ Hyperion. Seine jüdische Identität ist keine Verzerrung oder Fußnote, sondern eng mit den ethischen und philosophischen Fragen verwoben, die das Buch aufwirft. Simmons lässt Weintraub eine moderne Variation der biblischen Geschichte von Abraham und Isaak durchleben: Seine Tochter Rachel altert rückwärts – ein unaufhaltsamer Prozess, der sie irgendwann in einen Fötus verwandeln wird. Kann, muss, darf Sol sie retten? Oder ist es der Wille Gottes – in diesem Fall eines drei Meter großen, stachelbewehrten und sadomasochistischen Gottes – sie zu opfern?

Diese Reflexion über Gerechtigkeit, Schicksal und Verantwortung greift tief in jüdische Denktraditionen hinein. Weintraub ist kein einfacher »weiser Gelehrter«, sondern eine Figur, die sich mit existenziellen Fragen auseinandersetzt. Simmons nutzt jüdische Philosophie nicht als exotisches Requisit, sondern als intellektuelle Grundlage für zentrale Themen des Romans.

Eine ähnliche Strategie verfolgt Thomas Pynchon in Bleeding Edge. Hier ist es die zynische Privatdetektivin Maxine, die durch die finsteren Netzwerke des digitalen Zeitalters navigiert. Maxine ist Jüdin, aber das Jüdischsein ist nicht der Dreh- und Angelpunkt ihrer Figur. Es formt jedoch ihre Perspektive auf die Welt: eine Mischung aus Skepsis und einem tiefen Bewusstsein für Machtstrukturen. Während der Roman sich mit Themen wie Überwachung, Finanzkriminalität und technologischem Wandel beschäftigt, bleibt Maxines jüdische Identität subtil im Hintergrund präsent – nicht als Last, sondern als Teil ihrer Persönlichkeit.

Pynchon spielt dabei bewusst mit antisemitischen Verschwörungserzählungen, nur um sie ironisch zu unterlaufen. In einer Welt, in der jeder überall geheime Machtnetzwerke wittert, bleibt Maxine diejenige, die sich von paranoiden Weltbildern nicht vereinnahmen lässt. In einer Szene sagt sie spöttisch: „Es gibt Menschen, die immer noch glauben, die Rothschilds hätten den Wetterbericht erfunden.“ Pynchon dekonstruiert Verschwörungserzählungen nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit jüdischem Humor – eine Tradition, die an die besten Werke von Philip Roth erinnert.

Doch nicht nur Werke, die jüdische Figuren oder antisemitismuskritische Strukturen in nicht-jüdischen Erzählungen einbauen, verdienen Beachtung. Gerade jüdische Autor:innen selbst haben in den letzten Jahren begonnen, Fantasy aus einer jüdischen Perspektive zu schreiben.

In Israel hat sich eine lebendige Fantasy-Szene entwickelt, die sich sowohl mit jüdischer Mystik als auch mit gesellschaftlichen Themen auseinandersetzt. Lange wurde Fantasy in der israelischen Literatur belächelt – zu sehr sei sie ein Genre des eskapistischen Westens, zu wenig relevant für die tiefen politischen und historischen Verstrickungen Israels. Doch das hat sich geändert.

Viele israelische Fantasy-Romane greifen jüdische Mystik auf – oft auf spielerische, subversive Weise. Ein Beispiel dafür ist Shimon Adaf, dessen Werke klassische Fantasy- und Science-Fiction-Elemente mit jüdischer Mystik und kabbalistischen Motiven verweben. Sein Roman Kfor (Frost) spielt in einem alternativen Israel der Zukunft, in dem Magie und Technologie untrennbar miteinander verbunden sind. Adaf nutzt die jüdische Tradition der Textauslegung als erzählerisches Prinzip: Seine Figuren entschlüsseln alte Manuskripte, deuten Zeichen, rekonstruieren verlorenes Wissen – ein Prozess, der nicht nur die Handlung vorantreibt, sondern auch eine literarische Reflexion über das Wesen von Geschichte und kollektiver Erinnerung darstellt.

Noch radikaler bricht Lavie Tidhar in A Man Lies Dreaming mit den gängigen Konventionen. In seiner alternativen Geschichtserzählung wird Hitler, hier ein heruntergekommener Privatdetektiv in einem von Jüd:innen dominierten London, selbst zum Spielball der Erzählung. Tidhar dreht nicht nur die klassische Täter-Opfer-Dichotomie um, sondern zerlegt die gesamte Logik antisemitischer Verschwörungserzählungen – indem er sie bis zum Äußersten weiterdenkt und ins Absurde kippen lässt. Seine Romane sind eine Kampfansage gegen ein Genre, das allzu oft in den immer gleichen Mustern verharrt.

Und vielleicht ist das auch die Zukunft der Fantasy. Während das Genre über Jahrzehnte hinweg von christlichen oder säkular-westlichen Erzählmustern dominiert wurde, wächst eine neue Generation von Autor:innen heran, die sich von diesen Mustern lösen – um eigene Geschichten zu erzählen.

Fantasy muss kein ewiger Kreislauf aus antisemitischen Stereotypen, Verschwörungsmythen und reduzierten Jüd:innen-Bildern bleiben. Sie kann sich verändern: „Wenn ihr wollt, ist es kein Traum.“

4. Fazit: Gebt die Fantasie frei – oder jedenfalls die Fantasy!

Fantasy ist eine Welt der grenzenlosen Vorstellungskraft – doch oft zeigt sich, dass diese Vorstellungskraft eben nicht grenzenlos ist. Immer wieder werden alte Bilder, alte Mythen, alte Feindbilder weitergetragen, als hätte sich die Welt nicht längst »weiterbewegt«. Besonders der Antisemitismus zeigt eine erschreckende Beharrlichkeit. Er zieht sich durch die Literaturgeschichte, von mittelalterlichen Karikaturen über Wagners Nibelungen bis hin zu den raffgierigen Kobolden in Gringotts. Das Entscheidende ist dabei nicht, ob ein:e Autor:in sich bewusst antisemitischer Stereotype bedient. Vielmehr sind es kulturelle Muster, die über Jahrhunderte tradiert wurden – sie wirken in der Erzählpraxis fort, oft unbewusst, weil sie tief in unsere kollektiven Vorstellungen eingebrannt sind.

Doch genau hier liegt das Problem – und die Verantwortung. Fantasy war schon immer ein Genre, das mit Urbildern und Erzähltraditionen spielt. Aber die Frage ist: Werden diese Bilder nur wiederholt – oder werden sie hinterfragt? Wer sich auf gewachsene Erzählmuster verlässt, läuft Gefahr, unreflektiert alte Ressentiments zu tradieren. Gerade weil Fantasy mit Archetypen arbeitet, kommt ihr eine besondere Verantwortung zu: Sie kann stereotype Narrative entweder weiter verstärken oder sie bewusst aufbrechen.

Das Genre hat längst bewiesen, dass es mehr kann. Es kann jüdische Figuren schaffen, die nicht bloße Karikaturen oder passive Märtyrer sind, sondern Menschen mit eigener Geschichte, eigenen Motiven, eigener Tiefe. Es kann Verschwörungsnarrative entlarven, anstatt sich blind in sie hineinzusteigern. Es kann neue Wege gehen, anstatt immer nur dieselben Märchen zu erzählen. Und das ist auch notwendig. Denn Fantasy mag auch Eskapismus sein, aber sie ist niemals nur das. Jede Geschichte, die wir erzählen, prägt die Art, wie wir die Welt sehen. Wer in der Fantasy immer wieder auf dieselben Strukturen setzt, trägt dazu bei, dass bestimmte Ideen weiterleben – ob gewollt oder nicht.

Die gute Nachricht ist: Es gibt längst Autor:innen, die das verstanden haben. King, Pynchon, Simmons – sie alle haben gezeigt, dass es anders geht. Und eine neue Generation jüdischer und nichtjüdischer Fantasy-Schaffender hat längst begonnen, das Genre mit neuen Geschichten zu bereichern. Geschichten, in denen sich alte Motive in neue Perspektiven verwandeln. Geschichten, in denen Jüd:innen nicht nur als Allegorien oder Opferfiguren vorkommen, sondern als vollwertige Charaktere. Geschichten, die nicht nach einfachen Gut-Böse-Schemata funktionieren, sondern die realen Widersprüche verhandeln.

Denn genau das ist der Punkt: Fantasy muss nicht rückwärtsgewandt sein. Sie muss nicht immer wieder die alten Mythen aufwärmen, sie muss nicht in den immergleichen Erzählmustern stecken bleiben. Sie kann etwas Neues schaffen. Sie kann die Welt nicht nur spiegeln, sondern auch verändern.

Ob sie es tut, liegt an den Autor:innen – und an uns als Leser:innen.

Und wenn das keine Magie ist, dann weiß ich auch nicht.

Franziska Thurau

Franziska Thurau studiert seit Oktober 2020 Klassische Archäologie und Geschichte (B.A.). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Genese des Antisemitismus in der vorchristlichen Antike sowie den Kontinuitäten antisemitischer Narrative von der Antike bis in die Gegenwart.

Lennard Schmidt

Lennard Schmidt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Initiative Interdisziplinäre Antisemitismusforschung. Gemeinsam mit Salome Richter leitet er die Initiative als kollegiale Leitung. In seiner Dissertation untersucht er Antisemitismus in der 68er-Bewegung.

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