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Buchtipps aus dem Otherland September 2024

Buchtipps aus dem Otherland September 2024
© ‎Dörlemann Verlag

Otherland, 12.09.2024

Regelmäßig gibt euch das Team der Berliner Fantasy- und Science-Fiction-Buchhandlung Otherland Tipps zu den interessantesten neuen Büchern aller Verlage.

Science Fiction

Octavia E. Butler | Xenogenesis

Heyne: €19

Butler lesen heißt: Verabschieden vom Ruhepuls.

Mein Einstieg, mein erstes Butler-Werk, war tatsächlich der erste Teil von Xenogenesis, welches als Gesamtausgabe (3 Teile in einem Buch) nun zum Glück wieder auf Deutsch lieferbar ist. War das ein geeigneter Einstieg? Dazu kommen wir gleich.

Für Butler-Bücher fallen mir Begriffe wie aufwühlend, ambivalent, schmerzhaft, haarsträubend, hoffnungsvoll, Grenzen auslotend, Dilemmata, Graubereiche, starke Emotionen, Recht, Moral, Gewalt, Dominanz, Sklaverei, Persönlichkeitsrechte, Fremdartigkeit, Abgrenzung, Visionen, Erbe, Zucht, Protagonistinnen ein. Butler macht am Anfang des Buches eine Wunde auf und rührt dann für die restlichen Seiten darin herum. Sie kann nahe Zukunft, Zeitreisen, Mutanten à la X-Men, Alien-Erstkontakt, … man hätte ihr ein ewiges Leben gewünscht, was da noch alles drin gewesen wäre!

Vielleicht war es meine anfängliche Unbedarftheit, aber ich empfinde Xenogenesis bis heute als die „krasseste“ von Butlers Geschichten. Wo sie (fast) alle Regler der oben genannten Inhalte bis zum Anschlag aufgedreht hat. Inhaltlich werde ich nichts verraten, dann ist die Wirkung umso stärker, denke ich mir. Wer einen sanfteren Einstieg wünscht, wobei sanft hier der definitiv falsche Begriff ist, dem würde ich die Parabel vom Sämann und dessen Fortsetzung Parabel der Talente empfehlen und mich dann über Fledgling und Kindred (nur auf Englisch) langsam zu Wilde Saat und Xenogenesis hocharbeiten. Ganz so schlecht war mein Einstieg mit Xenogenesis aber auch nicht, ich wusste danach, woran ich bin und konnte alle anderen Butlers in vollen Zügen genießen. Kann man also auf jeden Fall auch machen.

[Caro]

Bernhard Kegel | Gras

Dörlemann: €25

Gebt mir mehr Berlin-SF!

Sachbuch- und Romanautor Bernhard Kegel hat meine Gebete erhört und einen Berlin-Postapokalypse-Roman geschrieben, den man auch Leuten, die keine SF-Fans sind empfehlen kann. Mit viel Gras (das am Boden, nicht in der Pfeife) und einem Mammut!

Ich habe seinen neuen Roman Gras innerhalb weniger Tage weggezogen - Kegel macht es einem, mit einer Mischung aus vertrauter Umgebung (Berlin!) und solider, verständlicher Wissenschaft (er ist promovierter Chemiker/Biologe), einfach einzutauchen: am Berliner Bundesplatz taucht plötzlich ein neues Gras auf, drückt sich zwischen die Ritzen und fängt an, Pflastersteine und Platten am Boden zu heben.

Doch das ist längst Vergangenheit, denn die Geschichte wird von einem der wenigen Menschen erzählt, die noch in Berlin zurück geblieben sind.

Fantasy

Sarah Brooks | Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland

C. Bertelsmann: €24

Es ist Sommerferienzeit und ich vermute, dass sich einige unserer geschätzten Leser darauf freuen, in den Urlaub zu fahren. Ich wünsche euch leere Strände mit kristallklaren Lagunen. Saftig grüne Wiesen, die im klaren Morgenlicht baden. Pittoreske mittelalterliche Städte, Eiscreme und Aperol.

Aber alles hat seinen Preis und manch Traumort liegt weiter weg, als der Rand der Landkarte es zulassen würde. Der öffentliche Nahverkehr ist eine ernüchternde Erfahrung. Aber öffentlicher Nahverkehr für mehrere Tage ein völlig neuer Albtraum. Verzweifelt aber noch nicht, Hilfe zwischen zwei Buchdeckeln naht! Wie passend, wenn dieses Buch auch noch in einem Zug spielt? Es wird metaphysisch, Baby! Dieses fantastisch seltsame Debüt von Sarah Brooks bringt Anleihen von Fantasy, Mystery mit einem gelegentlichen Kopfnicken Richtung Steampunk (Jippie!) mit sich.

Zwischen Peking und Moskau liegt das absonderliche Ödland, bei dem bereits ein Blick ausreicht, um einen Menschen wahnsinnig werden zu lassen. Da die Geschichte um 1900 spielt, kann man leider nicht mit Raumschiffen darüber fliegen, sondern muss einen luxuriösen Waggon besteigen. “Das Handbuch” ist übrigens kein Reiseführer, sondern eine Geschichte über einen bunt zusammengewürfelten Haufen an Menschen, die diesen Zug betreiben plus ein paar zahlende Reisende, mit Sinn für Abenteuer (oder Lust auf Wahnsinn?). Selbstverständlich bringt jeder einzelne Passagier ein eigenes Geheimnis mit an Bord.

Stellt euch den Orient Express auf Fahrt durch Vandermeers Area X vor. Aber wo Agatha Christies Charaktere diesen einzigartigen Touch von Satire und Humor besitzen, bleiben Sarah Brooks Charaktere leider eindimensional. Weiwei, das Kind des Zuges wurde in dem Zug geboren. Eine Gegebenheit, die bei jedem Auftreten Weiweis erwähnt wird. Dann gibt es da noch die Antagonisten “Die Krähen”: Zwei persönlichkeitslose Fieslinge, die die kapitalistische “Company” vertreten. Ein gemeiner Arzt. Ein gescheiterter Wissenschaftler, der seine Ehre wieder herstellen möchte. Eine reiche alte Frau, die kecke Kommentare macht. Und eine blinde Passagierin, die ganz ihr eigenes Ding macht. Ihr versteht was ich meine? Schade, da wurde, meiner Meinung nach, echt Potential verschenkt. Aber egal, denn da wo die Charaktere einspurig sind, sind die Beschreibungen des Ödlands wunderlich und originell. Ich bekam direkt das Bedürfnis ein Ticket für diesen Zug zu kaufen, bei dem jeder Blick hinter den Vorhang meinen Geisteszustand in Frage stellen und Wunder jenseits von Gut und Böse präsentieren würde. Ähnlich einem echten Zug, kam die Story zu Beginn erst langsam ins Rollen, nahm dann aber gehörig Fahrt auf, bis man fast nicht mehr hinterherkam.

Erwartet nicht das beste Buch, das je geschrieben wurde, aber eine kleine Ablenkung, die genau das tut, was sie tun soll. Also nehmt diesen Reiseführer zur Hand und bemerkt, wie sich der Flixtrain ohne funktionierende Toiletten in eine prächtige Maschine verwandelt - mit weich gepolsterten Sitzen, Ausstattung im Jugendstil und seltsamen Kreaturen, die hinter dem Fenster auf euch lauern.

[Esther]

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