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Waren die Eulen je, was sie schienen? – Ein persönlicher Nachruf auf David Lynch

David Lynch als FBI-Agent im Anzug in der 3. Staffel von "Twin Peaks". Er trägt ein Hörgerät und hat die rechte Hand mit erhobenem Daumen ausgestreckt.
© Showtime

Simon Spiegel, 06.02.2025

Am 15. Januar 2025 ist Regielegende David Lynch verstorben. Warum Twin Peaks alles veränderte und Dune am besten als Oper betrachtet wird. Simon Spiegel wirft einen stellenweise auch kritischen Blick auf das Schaffen des Ausnahmekünstlers und seinen Bezug zum Genre.

Es hätte alles auch ganz anders kommen können. Obwohl es damals niemand ahnte – zu Beginn der 1980er-Jahre stand die Welt des Kinos an einem Scheidepunkt. David Lynch hatte gerade seinen zweiten Langspielfilm The Elephant Man ins Kino gebracht, und für einen kurzen Moment schien alles vorbereitet für eine Karriere als Regisseur großer Hollywoodkisten. Es mag rückblickend wie ein kolossaler Irrtum erscheinen, doch mit seinem Porträt des schrecklich entstellten Joseph Merrick – von der Kritik gefeiert und für acht Oscars nominiert – hatte Lynch gezeigt, dass er nach seinem alle Maßstäbe sprengenden Erstling Eraserhead sehr wohl in der Lage war, einen konventionellen Film zu drehen. Auch in The Elephant Man dringt Lynchs Faszination fürs Groteske und Abnorme immer wieder durch, doch insgesamt folgt dieses biografische Drama sehr wohl den in Hollywood üblichen Normen.

Lynch schien damit alles mitzubringen, was es für ein großes Leinwandspektakel braucht: Die Fähigkeit, nie gesehene Bilder zu schaffen, aber auch einen Sinn für massenwirksames Erzählen sowie den nötigen Schuss Sentimentalität. In der Folge lud ihn kein Geringerer als George Lucas zu sich auf die Skywalker Ranch ein, um ihm die Regie für den dritten Star-Wars-Film Return of the Jedi anzutragen. Lynch hat später gerne erzählt, wie Lucas ihm stolz die zahlreichen Entwürfe für den Film vorführte und wie sich seine anfänglichen Kopfschmerzen zu einer handfesten Migräne auswuchsen und er das Anwesen schließlich fluchtartig verließ. Noch auf dem Rückweg rief er von einer Telefonzelle aus seinen Agenten an, um diesem verzweifelt mitzuteilen, dass er diesen Film auf keinen Fall drehen könne.

Rückblickend erklärte Lynch, dass er Science Fiction ohnehin nie besonders gemocht habe. Ein sonderbares Statement, wenn man bedenkt, dass der Film, den er dann tatsächlich drehen sollte, Dune war. Ebenfalls ein Science-Fiction-Blockbuster, bei dessen literarischer Vorlage sich Lucas beim Schreiben von Star Wars übrigens kräftig bedient hatte.

Selbst Dune hat eine kleine eingeschworene Fangemeinde, doch das Netteste, was man über dieses Ungetüm sagen kann, ist, dass sich auch hier immer wieder Lynchs Talent für surreale Szenerien zeigt. Etwa in einer Szene zu Beginn, als der intrigante Imperator Besuch von einem Vertreter der Navigator-Gilde erhält. Erzählerisch ist das alles ziemlich unbeholfen; viel geschwätzige Exposition, die letztlich zu nichts führt. Aber die Bilder! Da wäre das offensichtliche Prunkstück der Szene, ein riesiger Sarkophag, in dem der Navigator, wahrscheinlich ein entfernter Verwandter des Elefantenmenschen, schwimmt. Aber fast noch interessanter ist das Gefolge des Navigators: in schwarze Trenchcoats gehüllte Glatzköpfe, die mit seltsamen Gerätschaften hantieren, von denen eine verdächtig an einen Staubsauger erinnert. Wer diese Weltraum-Skinheads sind, was ihre Funktion ist, wird nie geklärt, und gerade das macht sie viel interessanter als die beiden alles erklärenden Protagonisten.

David Lynchs die Rückkehr der Jedi-Ritter und Dune als Oper

The Elephant Man erschien 1980, Dune 1984. Irgendwann dazwischen ist der Moment, an dem sich, wenn man an das Konzept das Multiversums glaubt, die Geschichte verzweigte und mehrere Parallel-Universen entstanden sind. In einem dieser Universen übernimmt Lynch die Regie von Return of the Jedi, landet damit einen ähnlichen Misserfolg wie mit Dune und würgt damit die Star-Wars-Reihe ab. In einem anderen wird dagegen die Wüstenplanet-Saga ein riesiger Erfolg, der mehrere Sequels nach sich zieht. Lynch steigt zum Blockbuster-Spezialisten auf und wird fortan in einem Atemzug mit Kollegen wie James Cameron oder Steven Spielberg genannt.

Wir leben, und das ist unser Glück, in keinem dieser Universen. Es ist – ein kurzer Blick auf die aktuelle Weltpolitik macht das schmerzhaft deutlich – sicher nicht die beste aller möglichen Welten, aber es ist zumindest die Welt, in der Lynch Blue Velvet und Twin Peaks gedreht hat.

Es wurde schon viel – zu viel – zu Lynch geschrieben, aber was mich an seinem Werk am meisten fasziniert und auch gut zu einem Nachruf auf einer Website wie Tor Online passt, ist sein Verhältnis zum Genrekino. Obwohl Lynchs Œuvre in der Regel aus anderen Blickwinkeln analysiert wird – von der Psychoanalyse bis zur Transzendentalen Meditation ist hier alles im Angebot –, kann man es auch als ein konstantes Ringen mit den Regeln des Genrekinos verstehen.

Der SF-Forscher Istvan Csicsery-Ronay hat einmal die interessante These aufgestellt, dass Dune auf einem großen Missverständnis beruhe. Dass Lynch, wie es das zitierte Statement nahelegt, tatsächlich keine tiefergehende Affinität zu SF besitze und sich Dune denn auch nicht an typischen Genrevertretern wie Star Trek oder Star Wars orientiere, sondern der Oper und vor allem dem Stummfilm deutlich näherstehe.

Unabhängig davon, ob man ihm zustimmt oder nicht – worauf Csicsery-Ronay aufmerksam macht, ist, dass die Frage, wie man Lynchs Filme versteht, sehr oft eine des Bezugssystems, eben des Genres ist. Als „normaler“ Abenteuerfilm, der einen mit seinem spannenden Plot mitreißt, funktioniert Dune zweifellos nicht. Und seine Ästhetik steht nicht in der Tradition des SF-typischen Realismus, der darauf abzielt, die technischen Neuerungen als plausibel erscheinen zu lassen, sondern ist stark vom Surrealismus beeinflusst, der diesem Ansatz vollkommen entgegensteht. Schaut man den Film dagegen als opernhaftes Epos, bei dem Handlung und Dialog Nebensache, Dekor und Gestus dagegen alles sind, wird er zwar nicht zum Meisterwerk, wirkt aber deutlich stimmiger.

Was bei Dune noch nicht funktionierte, eine produktive Reibung mit den Genreregeln, sollte in der Folge zu Lynchs unbestrittenen Meisterwerken führen – Blue Velvet, Wild at Heart und natürlich vor allem Twin Peaks.

Warum nach Twin Peaks alles anders war

Für nachkommende Generationen, die in einer Zeit aufgewachsen sind, in der hochwertige Fernsehserien eine Selbstverständlichkeit darstellen, mag es nur noch schwer nachvollziehbar sein, wie bahnbrechend, wie grundlegend anders Twin Peaks bei Erscheinen war. Die Art und Weise, wie Lynch und sein Co-Autor David Frost hier Genre-Elemente mischen, wie der vermeintlich gradlinige Krimi um den Mord an Laura Palmer mit immer mehr und immer seltsameren Nebenplots und Arabesken angereichert wird, und vor allem, wie das von Anfang an mit einer noch nie gesehenen Selbstironie unterlegt ist, das veränderte das populäre Erzählen grundlegend.

Heute gehören das Spiel mit Genrekonventionen sowie selbstreflexive Momente, in denen die Serie sich selbst zum Thema macht, zum Standardrüstzeug seriellen Erzählens. Damals war das neu und unerhört. Es ist nur wenig übertrieben zu behaupten, dass die heutige Fernsehlandschaft ohne Twin Peaks anders aussehen würde, dass das, was oft unter dem Label Quality TV zusammengefasst wird, mit Lynchs Serie seinen Anfang nahm.

Nicht alles an Twin Peaks ist gleichermaßen gelungen. In der zweiten Staffel funktioniert so einiges nicht mehr. Aber das ist vernachlässigbar angesichts von Momenten wie der Szene, in der der Dämon Bob im Wohnzimmer der Haywards erscheint. Es ist eine Szene von unglaublicher Schlichtheit. Man sieht nicht mehr als ein biederes Wohnzimmer, in dessen Hintergrund ein Mann erscheint, der dann langsam über die Couch in der Mitte des Raums klettert. Im Grunde geschieht hier fast nichts, und doch ist es einer der unheimlichsten Momente in der Geschichte von Film und Fernsehen.

Und dann natürlich das Ende: Dale Coopers blutverschmiertes Gesicht, das den zerbrochenen Spiegel anlacht, aus dem ihm Bobs Fratze entgegenstarrt. Cooper war gescheitert, das Böse hatte triumphiert. So etwas hatte es noch nie gegeben.

Der Höhepunkt seines Schaffens

Viele sind zweifellos anderer Ansicht, aber zu Beginn der 1990er-Jahre, mit Twin Peaks und Wild at Heart hatte Lynchs Schaffen seinen Höhepunkt erreicht. Alles, was danach kam, waren im besten Fall interessante Variationen des bereits Geschaffenen, im schlechtesten Fall uninspiriertes Selbstplagiat. Weder Blue Velvet noch Wild at Heart sind reines Genrekino, doch liefern der Thriller respektive das Road Movie hier noch so etwas wie ein Rückgrat, das die einzelnen Teile zusammenhält. Das Problem von Filmen wie Lost Highway und Mulholland Drive ist just, dass Lynch sich hier nicht mehr an die Vorgaben des Genrekinos gebunden fühlt, dass er macht, was er will.

Die Filmgeschichte ist voll von epischen Konflikten zwischen Regisseur:innen und Produktionsfirmen, von Filmschaffenden, die sich dem Diktat der Industrie unterwerfen mussten und ihre Filme nicht nach ihren eigenen Vorstellungen realisieren konnten. Was bei derartigen Geschichten gerne unterschlagen wird, ist, dass Beschränkungen auch beflügelnd wirken können und völlige Freiheit den wenigsten Künstler:innen sonderlich tut gut.

Natürlich hatte Lynch auch nach Wild at Heart, für den er am Filmfestival von Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, nicht freie Hand. Das zeigt sich nicht zuletzt an der kleinen Zahl von Kinofilmen – fünf an der Zahl –, die er danach noch fertigstellte. Doch es waren Filme, in denen er je länger, je mehr vor allem seine zu Markenzeichen gewordenen Eigenheiten zelebrierte.

Das konnte zu ikonischen Momenten wie der Partyszene in Lost Highway führen, in der der Mystery Man dem Protagonisten Bill ein Mobiltelefon übergibt, damit dieser mit ihm – dem Mystery Man – sprechen kann (Lost Highway ist übrigens ein Film – und damit wären wir wieder bei den Genreregeln –, der viel von seiner Rätselhaftigkeit verliert, wenn man ihn als SF liest). Oft war das Ergebnis aber Ärgernisse wie die Figur des kleinwüchsigen, im Rollstuhl sitzende Mr. Roque in Mulholland Drive. Ein bisschen Frank Booth aus Blue Velvet, ein bisschen rätselhafter Zwerg aus Twin Peaks – fertig ist die Groteskerie aus dem Lynch-Baukasten. Oder das blaue Kästchen, das so gewollt geheimnisvoll ist, dass eigentlich nur noch eine Texteinblendung mit dem Hinweis „Achtung! Wichtiges Symbol!“ fehlt.

Exemplarisch zeigt sich diese Tendenz auch in der dritten Staffel von Twin Peaks, die nach einem Vierteljahrhundert fortsetzte, was nie hätte fortgesetzt werden sollen. Selbstverständlich gibt es auch hier wieder großartige Momente, und zwischendurch ist man sogar geneigt, Lynch zu verzeihen, dass sich niemand mehr an Coops große Liebe Annie Blackburn zu erinnern scheint. Doch dann gibt es diese endlosen Szenen in der Black Lodge, und es wird klar, dass Lynch offensichtlich nicht mehr versteht, was diese einst großartig gemacht hat. Dass Stroboskop-Effekte und rückwärts sprechende seltsame Gestalten nur in kleinen Dosen geheimnisvoll sind, nach spätestens zehn Minuten aber nur noch nerven.

Das mag als Abschluss dieses Nachrufs sehr negativ klingen, doch gilt es die Perspektive zu wahren. Lynch kann für sich etwas sehr Seltenes in Anspruch nehmen: Er hat mit weniger als einer Handvoll Filmen das Kino und auch das Fernsehen nachhaltig verändert. Und er hat, was freilich nur wenige interessieren dürfte, auch mein Leben verändert. Ohne Twin Peaks wäre ich ein anderer; vielleicht ein Fan von Lynchs Return of the Jedi oder seiner Dune-Reihe, aber ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ich in diesen Welten glücklicher wäre.

Simon Spiegel

Simon Spiegel ist Senior Researcher und Privatdozent am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. 2019 hat er sich mit einer Studie zur Utopie im nichtfiktionalen Film habilitiert. Er schreibt regelmäßig für diverse Publikationen über Film und verwandte Themen; demnächst erscheint der von ihm herausgegebene Band The Fear of Knowing, die erste umfassende wissenschaftliche Publikation zum Phänomen des Spoilers. simifilm.ch