Tom Hillenbrand, 08.08.2024
Lieferdienste bringen dir alles, was du willst – und das binnen Minuten. Doch ein Geschäft machen nur Zusteller, die besonders schnell und besonders skrupellos sind. Tom Hillenbrands neuer Thriller erzählt von einer Welt, in der Kuriere bis an die Zähne bewaffnet sind. Hier gibt es einen Sneak Peak, bevor das Buch am 15. August erscheint.
Alles Gute hat einen Barcode.
J. G. Ballard, »Das Reich kommt«
[…]
Über-Lieferung
Yamamoto beschreibt im Hagahako die sankuchi, die Drei Stratageme, die zur erfolgreichen Zustellung führen: hayakuchi, das Stratagem der Geschwindigkeit; zurukuchi, das Stratagem der List; und yasakuchi, das Stratagem der Übermacht.
Vor allem das Stratagem der Geschwindigkeit ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Um es mit den Worten des ehrenwerten Yamamoto-san zu sagen: »Sei wie der Blitz, der unerwartet in die Zeder einschlägt.«
Da alle dieselben Druckdaten verwenden und folglich identische Schuhe, Toaster und Nachttischlampen makern, geht es vor allem darum, der Erste zu sein. Im delivery business gibt es keinen zweiten oder dritten Platz; alles außer der Goldmedaille ist eine Retoure. Winning isn’t everything. It’s the only thing.
Rasanz also, und wenn dir die fehlt, Sabotage. Ist der Gegner zu schnell, muss man das Stratagem der List anwenden – verbrutzle die Schaltkreise seiner Drohnen, schiebe seinen Expedienten falsche Lieferadressen unter, installiere Fake-Boxdrops.
Ja, so etwas gibt es. Die Saftsäcke von Yarmarka haben vergangenes Jahr auf den Dächern mehrerer SILOs solche Dinger aufgestellt. Die eingeworfenen Pakete landeten nicht beim Kunden, sondern im Müllschacht.
Aber manchmal hilft das alles nichts. Manchmal kann man den Gegner nur mithilfe von yasakuchi besiegen: dem Stratagem der Übermacht.
Vom Dach eines Hochhauses nahe der Kottbusser Linden schaue ich mir das Spektakel an. Mehr als ein Dutzend Dropships schweben über der Stadt. Schwärme von Drohnen verdunkeln den Himmel. Dazwischen flitzen Handos hin und her.
Die GameStation ist der heißeste Artikel der Saison. Alle wollen ihn. Und alle werden sich später daran erinnern, wer ihnen das Ding geliefert hat und wer nicht. Es ist die Gelegenheit, bleibende customer loyalty zu generieren.
Entsprechend ziehen die Dienste alle Register. Sie setzen auf das, was die Jungs vom militärischen Marketing overdelivery nennen. Wir versuchen, die Konkurrenz plattzumachen, indem wir mehr Pakete auskotzen als sie. Wir scheißen die Kunden zu mit GameStations.
Ich rufe mir die Zahlen auf. Als ich sagte, jeder wolle eine GS, war das kaum übertrieben. Der Maker-Blockchain zufolge haben Rio, Jayjay und Konsorten heute bereits eine Million davon lizenziert – nur in Beezwee, wohlgemerkt.
Wer am Ende Sieger sein wird und wer eine fünfzig Meter hohe Pyramide unausgelieferten Elektroschrotts in seine Bilanz stellen muss, ist noch offen. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass der Sieger nur Rio oder Jayjay heißen kann. Die anderen Dienste sind schlichtweg zu klein. Sie können mit der printing power unserer Maker-Schiffe nicht mithalten.
Irgendwo in der Nähe des Mecklenburger Bogens steigt Rauch auf. Vermutlich ist eine Drohne abgeschmiert. Ich glaube aber nicht, dass sie jemand abgeschossen hat. Wahrscheinlicher ist, dass es sich um eine Fehlfunktion handelt. Heute ist einfach derart viel Material in der Luft, dass …
SPECIAL DELIVERY 😮📦☝️
Was ist das jetzt wieder? Ich habe bereits vier GameStations an den Endverbrauchenden gebracht und wollte eigentlich gleich die nächste in Angriff nehmen. Ich rufe mir das Ticket auf.
Es handelt sich um eine Retoure. Ich soll sie irgendwo abholen. Das ist ungewöhnlich, aber es ist auch ein ungewöhnlicher Tag. Vielleicht handelt es sich um eine GS, die anderswo benötigt wird, und der DvD hat gesehen, dass ich in der Nähe bin.
Schon bin ich auf dem Board. Anders als sonst meide ich den Delivery-Korridor. Er ist einfach zu voll. Zwar sind Kollisionen dank des Verkehrsleitsystems nahezu ausgeschlossen. Dennoch macht es keinen Spaß, wenn nonstop Drohnen mit zweihundert oder mehr Sachen haarscharf an einem vorbeizischen. Deshalb fliege ich weiter oben, im Niemandsland zwischen Liefer- und Thopterkorridor.
Das Visor zeigt mir einen Punkt auf einem Wohnhaus an, eine begrünte Dachterrasse. Sind das allen Ernstes Schafe, die da auf dem Dach weiden? Sieht ganz so aus.
Ich sehe ein Pick-up-Oktagon. In der Mitte steht ein Paket – meines, wie mir die farbliche Umrandung im Visor anzeigt.
Ich gehe runter. Die Schafe nehmen es teilnahmslos zur Kenntnis. Als ich nur noch wenige Meter über dem Paket bin, fällt mir etwas auf. Die Kiste ist nicht Rio-blau, sondern Jayjay-gelb.
Ich lande. Die Dachterrasse hat vielleicht hundert Quadratmeter, das meiste davon Rasenfläche. Irgendwo stehen zwei Deckchairs. Durch die Glaspaneelen dahinter erkennt man ein Wohnzimmer.
Ich knie neben der Kiste nieder. Lieferboxen besitzen kein Adressetikett, nur einen Barcode. Mein Visor scannt ihn. Big Rio bestätigt, dass dies eine Rio-Lieferung ist. Um ganz sicherzugehen, hebe ich die Box an und streiche mit dem Zeigefinger über die Unterseite. In meinem Handschuh befindet sich ein Reader, im Boden des Pakets ein Funkchip. Das ist ein zusätzliches Sicherheitselement.
Erneut bestätigt mir der Rechner, dass dies unsere Lieferung ist.
Kunden dürfen Lieferungen in beliebigen Verpackungen zurückgeben – Kodex, Paragraf 112. Ist aber ungewöhnlich. Also greife ich mir die goldene Schachtel, gehe zur Terrasse. Die Tür steht einen Spaltbreit offen.
Ich rufe in die Wohnung hinein: »Verzeihung, Handkurier. Ihre Retoure, Frage dazu?«
Ich stehe an der Schwelle. Einen Schritt weiter und es wäre Hausfriedensbruch. In dem Wohnzimmer ist es sehr unordentlich. Aus dem Flur vernehme ich Geräusche, eine Art metallisches Ratschen und noch etwas. Es klingt wie … ein Keuchen? Nicht wie ein koitales Keuchen, eher so, als sei jemand sehr aufgeregt.
»Darf ich die umpacken in eine Rio-Smartbox? Wäre das … «
Es tut einen lauten Knall. Dem folgt ein weiterer, der sich jedoch anders anhört als der erste.
Die Panoramascheibe vor mir birst in tausend Stücke. Bevor ich darüber nachdenken kann, haben meine Füße die Sache bereits entschieden. Ich haste über den Rasen, zur anderen Seite der Terrasse. Aber etwas verstellt mir den Weg.
Es ist eines der Schafe. Seine Augen sind vor Panik geweitet. Willkommen im Club, Wuschel. Die anderen Schafe scheinen fortgerannt zu sein, wohin auch immer. Aber dieser Kollege ist vor Furcht erstarrt, bewegt sich keinen Zentimeter.
»Hau ab«, brülle ich, »du bist im Weg!«
Mit der Kiste unter dem einen und dem Board unter dem anderen Arm renne ich direkt auf das Schaf zu. Im letzten Moment macht es einen Satz, gibt den Weg frei. Schüsse zerreißen die Luft. Ein Mann schreit auf.
Ich tue etwas, das man nie tun sollte. Statt das Board zu aktivieren, bevor ich aufsteige, springe ich mit einem Satz über die Begrenzung am Rande der Dachterrasse und schiebe mir im selben Moment das Brett unter die Füße.
Es klackt, als sich meine Sohlen magnetisieren und das Board zu sich heranziehen. Dann geht es abwärts. Es dauert zwar nur ein paar Sekunden, bis die Suspensoren meinen freien Fall bremsen. Aber bis dahin habe ich mir fast in die Hosen geschissen.
[…]
Lieferdienst
Tom Hillenbrand
Erscheinungstermin: 15.08.2024
Verlag: Kiepenheuer&Witsch