Science Fiction

Politische Bildung als Zukünftebildung – mit Science Fiction!

Coverausschnitt von "Farenheit 451". Eine Person im Schatten hält mit ihren beiden Händen ein brennendes Buch
© Heyne

Isabella Hermann, 13.11.2024

Durch die letzte Präsidentschaftswahl in den USA wurde noch mal deutlich: wir leben in düsteren Zeiten, Demokratie und Freiheit stehen unter Beschuss. Umso wichtiger ist es, mit allen verfügbaren Mitteln politische Bildung zu vermitteln. Isabella Hermann erklärt uns, wie die Science Fiction dazu ihren Beitrag leisten und dazu verwendet werden kann.

Science Fiction ist politisch! Denn sie bietet die Möglichkeit, gesellschaftspolitische Fragen in Extremsituationen zu durchdenken und Zukunftsszenarien zu entwerfen, die uns zum Nachdenken über unsere aktuellen Werte und Strukturen anregen und unseren Vorstellungshorizont erweitern. Der besondere Kniff dabei ist, dass die meisten Science-Fiction-Geschichten in der Zukunft angesiedelt sind. Diese Zukünfte sind geprägt von neuen Erfindungen, Entdeckungen und Entwicklungen, die technischer, gesellschaftlicher oder ökologischer Natur sein können. So erlaubt es diese Zukünftigkeit, außergewöhnliche Bedingungen zu schaffen, unter denen unsere Ängste, Wünsche und Herausforderungen wie unter einer Lupe vergrößert werden. Das Genre ist immer auch ein Spiegel der Gegenwart, um das, was uns heute beschäftigt, aufzuarbeiten und zu reflektieren. So entsteht durch die Fiktion eine Distanz zur Realität, die den Raum gibt, uns intensiv mit aktuellen Themen auseinanderzusetzen und die Dinge in einem neuen Licht zu betrachten. Die Kernfrage ist dabei weniger, welche Lösungen Science-Fiction für Probleme anbieten kann, sondern mehr, auf welche Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft das Genre hinweist. Auf diese Weise kann sowohl eine Diskussionsgrundlage als auch Orientierungswissen geschaffen werden, um die Aufgaben unserer Zeit anzugehen. 

Nicht jede Science-Fiction-Geschichte muss sich dabei direkt mit Politik beschäftigen, aber das Genre eignet sich besonders gut, um politische Themen in einem neuen, oft kritischen Licht darzustellen. Unter Politik bzw. politisch verstehe ich hier ganz allgemein das Aushandeln, die Beeinflussung und das Bestimmen von Formen des Zusammenlebens. Dabei steht die Frage im Zentrum, was gute Politik ausmacht, welche Werte ihr zugrunde liegen und wie wir gute Lösungen finden können. In Deutschland, den Ländern der EU und vielen anderen Ländern darüber hinaus gehen wir davon aus, dass gute Politik auf demokratischen Grundsätzen, Rechtsstaatlichkeit und dem Schutz der Menschenrechte basiert. Diese im Deutschen Grundgesetz verankerten Werte sollen politische Entscheidungen leiten und sicherstellen, dass die Maßnahmen des Staates gerecht, sozial und nachhaltig sind. 

Politische Fragen stellt die Science Fiction insbesondere dann, wenn sie Dystopien und Utopien beschreibt. Die Dystopie – nach dem griechischen Ursprung ein „schlechter Ort“ – ist eine fiktionale Gesellschaft, die von negativen Merkmalen wie autoritärer Herrschaft, Machtmissbrauch, Überwachung oder Unterdrückung geprägt ist. Utopien dagegen – nach dem griechischen Ursprung ein „guter Ort“ oder „Nicht-Ort“ – beschreiben (das Ringen um) wünschenswerte Gesellschaften. Daher eignet sich Science Fiction hervorragend zur Vermittlung von politischer Bildung und kritischem Denken, wo es darum geht, Wissen und Kompetenzen zu erwerben, mit denen die Bürger*innen ein eigenes Urteil bilden können, das Verständnis für demokratische Werte schärfen und lernen, gesellschaftliche Entwicklungen kritisch zu hinterfragen. 

Science Fiction in der Schule

Hier sind verschiedenste Formate für alle Altersgruppen denkbar, von Seminaren, in denen Bücher und Filme diskutiert werden, über Vorträge oder Podien, die größere Zusammenhänge herstellen, bis zu Workshops, in denen die Teilnehmer*innen eigene Science-Fiction-Szenarien entwickeln. Insbesondere die Schule ist ein wichtiger Ort, um diese Potenziale zu nutzen, da sie frühzeitig die Grundlagen für politisches Bewusstsein und kritisches Denken legt. Hier kann Science Fiction als didaktisches Mittel eingesetzt werden, um Schüler*innen zu motivieren, sich kreativ mit komplexen gesellschaftlichen und technologischen Fragen auseinanderzusetzen. Dadurch lässt sich nicht nur Interesse an politischen Themen wecken, sondern auch die Fähigkeit fördern, multiperspektivisch zu denken und eigenständige Lösungen für zukünftige Herausforderungen zu entwickeln. Häufig werden dazu Science-Fiction-Dystopien herangezogen. Hier lässt sich anhand von verfremdeten, aber konkreten Szenarien durchspielen, wie sich gesellschaftspolitische und wissenschaftlich-technische Trends zum Negativen entwickeln könnten, um als Warnung zu dienen. Science-Fiction-Werke wie Aldous Huxleys „Brave New World“, George Orwells „1984“, Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ oder Margaret Atwoods „The Handmaid’s Tale“ gehören als Buch oder Film schon lange zum Standard im Schulunterricht, um gesellschaftspolitische (Technik-)Dystopien zu diskutieren. 

Dies aber hauptsächlich im Englischunterricht. Doch besonders auch in Fächern wie Geschichte, Sozialkunde und Politik lassen sich sensible Themen wie Unterdrückung und Machtmissbrauch an Science-Fiction-Beispielen erarbeiten, die eine Distanz zu den Themen schaffen und so möglicherweise einen leichteren Zugang erlauben. Für Philosophie, Ethik und Religion bietet die Science Fiction eine umfassende Sammlung an Stoffen und Perspektiven, die theoretische Überlegungen und ethische Dilemmata in Gedankenexperimenten anschaulich machen können. In Fächern wie Physik, Chemie, Biologie oder Informatik kann Science Fiction jenseits von Diskussionen über verantwortungsvolle Wissenschaft und Technikfolgenabschätzung auch Begeisterung für „MINT“-Fächer wecken. Im besten Fall könnte man Science-Fiction-Bücher oder Filme fächerübergreifend einsetzen, um verschiedene Aspekte einer Geschichte intensiv zu beleuchten. „Brave New World“ wäre neben dem Englischunterricht beispielsweise auch für den Biologieunterricht spannend oder „The Handmaid’s Tale“ für den Religionsunterricht. Eine Beleuchtung von Science-Fiction-Werken aus verschiedenen Perspektiven würde sich auch insbesondere für Projekttage eignen. 

Doch bietet die Science-Fiction auch unzählige neuere Werke, die nicht nur aus dem anglo-amerikanischen Raum, sondern auch aus dem globalen oder deutschen Kontext stammen, um Schüler*innen verschiedener Altersstufen in ihrer Lebenswirklichkeit abzuholen. Ein Beispiel hierfür ist etwa der Roman „Der Klon“ von Jens Lubbadeh, der sowohl in den Fächern Deutsch, Geschichte, Sozialkunde/Politik und Biologie diskutiert werden könnte, da das Buch sowohl auf die deutsche Historie eingeht, den Aufstieg und die Mechanismen einer rechtsextremen Partei beschreibt und sich mit Fragen des Klonens und der Epigenetik auseinandersetzt. 

Dabei gibt es nicht nur dystopische Science-Fiction-Szenarien, die zwar vor negativen Trends warnen und den Raum für kritische Reflexion und die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Herausforderungen bieten, aber durch ihre pessimistischen und düsteren Bilder auch lähmen können. Gerade in Zeiten der sogenannten Polykrise – also einer Gleichzeitigkeit von Krisen wie Klimawandel, Kriegen, sozialer Ungleichheit und politischen Umbrüchen – und damit verbundener Zukunftsangst ist es wichtig, nicht nur vor Bedrohungen zu warnen, sondern auch positive Alternativen aufzuzeigen. Optimistischere Science-Fiction-Erzählungen, wie sie im Solarpunk-Genre oder in utopischen Visionen vorkommen, bieten hier eine wertvolle Ergänzung. Sie schaffen Räume, in denen sich die jungen Menschen vorstellen können, wie eine gerechtere, nachhaltigere und friedlichere Welt aussehen könnte. Diese positiven Zukunftsbilder können Inspiration und Motivation liefern, aktiv zu werden und sich für konkrete Lösungsansätze einzusetzen, sei es im Bereich von Umwelttechnologien, sozialer Gerechtigkeit oder politischer Partizipation, anstatt von Angst und Pessimismus überwältigt zu werden. Ein Beispiel, um in diesem Kontext zu arbeiten, ist Theresa Hannigs Roman „Pantopia“, der aus politischer, wirtschaftlicher und technologischer Perspektive Stoff für fruchtbare Diskussionen liefern kann. 

Science Fiction als Methode

Dabei ist Science Fiction nicht nur ein Genre, auf das man blickt, sondern kann auch zur Methode werden, um eigene Zukünfte zu entwickeln. So können im schulischen Kontext auch Formate angeboten werden, die ausgehend von existierenden Science-Fiction-Werken oder anderen Zugängen wie Zukunftswerkstätten oder Futures Literacy Workshops Bilder entwerfen, die den Schüler*innen ermöglichen, alternative Zukunftsszenarien zu gestalten und dabei ihre eigenen Ideen, Werte und Wünsche in die Vision einer möglichen Zukunft einzubringen. Diese Zukunftsbilder können nicht nur technologische, sondern auch soziale, ökologische und kulturelle Aspekte berücksichtigen, was den Lernenden hilft, ein ganzheitliches Verständnis für die Herausforderungen und Chancen der Zukunft zu entwickeln. Eine Inspirationsquelle könnte hier beispielsweise der Roman „Neongrau“ von Aiki Mira sein, der Jugendliche in einer popkulturell geprägten Welt von Games, Musik und Mode abholt, Identitätskrisen und Empowerment thematisiert und so und so eine Brücke zwischen der persönlichen Entwicklung der Jugendlichen und den gesellschaftlichen Herausforderungen schlägt.

Über die Schule hinaus ist es insbesondere für Studierende sinnvoll eigene Science-Fiction-Texte – sei es ein Essay, Zeitungsartikel, Geschichtsbucheintrag, eine Rede oder auch eine echte Story – im Kontext des eigenen Studienschwerpunkts zu verfassen. So lässt es sich nicht nur kreativ über mögliche Zukünfte nachdenken, sondern auch eigenen Annahmen, Werte und Prioritäten im Studium hinterfragen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein natur-, geistes- oder sozialwissenschaftliches Studienfach handelt, denn die Methode eröffnet für alle die Möglichkeit, wissenschaftliche Disziplinen und Herangehensweisen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Bedeutung zu reflektieren.

In der Politikwissenschaft könnte das beispielsweise die Einführung von KI-Systemen zu Unterstützung bei politischen Entscheidungen sein, in der Wirtschaftswissenschaft das Aufkommen eines neuen Paradigmas jenseits des Kapitalismus oder in der Biologie die Entwicklung neuer genetischer Technologien, die ethische Fragen zur Manipulation von Lebensformen aufwerfen. Die Student*innen setzen sich dabei nicht nur mit den Inhalten ihrer Geschichten auseinander, sondern hinterfragen auch, welche wissenschaftlichen oder technologischen Entwicklungen sie als relevant für die Zukunft erachten und welche sozialen oder politischen Herausforderungen sie darin sehen.  Besonders wertvoll wird diese Übung in der gemeinsamen Reflexion der verschiedenen Texte. Der Austausch mit den Kommiliton*innen bietet die Chance, unterschiedliche Perspektiven auf die Zukunft kennenzulernen, sich mit alternativen Vorstellungen auseinanderzusetzen und zu lernen, divergierende Meinungen zu respektieren und zu diskutieren. 

Eine solche Übung kann auch für etablierte Wissenschaftler*innen aller Disziplinen einen Mehrwert bieten, um zu hinterfragen, wie ihre Forschung und Arbeit in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten wirken könnten. Indem sie ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in Form von fiktiven Szenarien durchdenken, können sie potenzielle Auswirkungen, ethische Dilemmata oder unerwartete Entwicklungen reflektieren und so neue Perspektiven auf ihre Arbeit gewinnen. Diese Methode fördert ein interdisziplinäres Verständnis und öffnet den Raum für kreative Ansätze zur Lösung komplexer, zukunftsorientierter Fragestellungen. Das Spannende an der Science Fiction in diesem Kontext ist, dass das Genre sowohl Ideengeberin eines unbegrenzten technischen Fortschritts ist, diesen jedoch gleichzeitig kritisch kommentiert und darüber hinaus alternative Szenarien und Zukunftsvisionen aufzeigen kann. 

Obwohl Science Fiction also oft in der Zukunft spielt, beschäftigt sie sich im Kern mit den Problemen und Herausforderungen unserer Gegenwart. Die Zukunft dient dabei weniger als Vorhersage, sondern vielmehr dazu, gegenwärtige Gegebenheiten zuzuspitzen und aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. Die zentralen Fragen richten sich darauf, was die dargestellten Szenarien über unsere heutige Welt aussagen und welche Ideen, Werte, Ängste und Hoffnungen sie widerspiegeln. Auch wenn Science Fiction damit keine einfachen Lösungen für die drängenden Fragen unserer Zeit bietet, kann sie als Ausgangspunkt für Diskussionen darüber dienen, wie wir in Zukunft leben wollen. Besonders in dystopischen Szenarien werden die Gefahren von Machtmissbrauch, sozialer Ungleichheit und Umweltzerstörung so dargestellt, dass sie unser Bewusstsein für diese Probleme schärfen. Gleichzeitig bieten utopische Visionen wertvolle Denkanstöße, indem sie uns ermutigen, darüber nachzudenken, wie eine gerechtere, nachhaltigere und menschlichere Zukunft aussehen könnte. Science Fiction macht komplexe politische Themen greifbar und regt Zuschauer*innen und Leser*innen dazu an, über aktuelle politische Fragen nachzudenken und Zukunftsszenarien zu ergründen. So wird Science Fiction zu einem Werkzeug der politischen Bildung und der Zukünftebildung – nicht durch belehrenden Ton, sondern durch die Förderung von kritischem Denken, das zugleich unterhaltsam ist.

Isabella Hermann
© Stiftung Zukunft Berlin

Isabella Hermann

Dr. Isabella Hermann ist Politikwissenschaftlerin und analysiert Science Fiction. Sie geht in ihrer Arbeit der Frage nach, wie das Genre die Narrative rund um „Zukunftstechnologien“ und deren sozialpolitische Herausforderungen prägt. Sie ist Autorin von „Science-Fiction zur Einführung“ im Junius Verlag und präsentiert zusammen mit Aiki Mira den SWR-Podcasts „Das war morgen“ zum Thema deutsche Science-Fiction-Hörspiele.

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