Science Fiction

Spaziergang durch die Zukunft: Science-Fiction-Kurzgeschichten

Science-Fiction-Kurzgeschichten
© Arthur Haas/Clarkesworld

Judith Vogt, 11.05.2023

Sie sind so alt wie die Science-Fiction-Szene selbst, sind Sprungtore ins Genre für Schreibende wie für Lesende: Kurzgeschichten! Die Strukturen, in denen sie erscheinen, also die Magazine, Anthologien, Verlage, Foren, in denen sie zu finden sind, bringen dabei oft ihre ganz eigene historische Entwicklung mit sich und sind in verschiedenen Ländern und auf verschiedenen Sprachen unterschiedlich gewachsen.

Starten wir doch auch hier – wie im Vorgängertext über Novellen – mit der Definition der Kurzgeschichte. Auch hier gibt es im englischsprachigen Raum eine durch die Wortanzahl festgelegte Grenze: Erzählungen, die bis zu 7.500 Wörtern umfassen, sind eine Kurzgeschichte. Die Entwicklung im Deutschen basiert – anders als bei der Novelle – auf dieser im englischsprachigen Raum originären Erzählform. Denn der Begriff „Kurzgeschichte“ ist nichts anderes als die Übersetzung von „Short Story“, und Short Stories waren ursprünglich Geschichten, die kurz genug waren, um in Zeitschriften zu erscheinen.Diese Art von Publikation erwies sich teils als gewinnbringender als das Veröffentlichen von Romanen, weshalb sie besonders in den USA für viele Autor*innen des 19. Jahrhundert eine Einnahmequelle darstellte.

Die deutschsprachige Literatur freundete sich erst um 1900 mit dem Konzept an – hier war die Novelle Hauptkonkurrentin –; richtig etabliert wurde die Kurzgeschichte in weiten Teilen der deutschsprachigen Literatur erst in der Nachkriegszeit. Die deutschsprachige Science-Fiction jedoch war schneller, sogar schneller als ihre englischsprachige Schwester, denn die vermutlich weltweit ersten Sammlungen von Science-Fiction-Kurzprosa erschienen in den 1870er Jahren („Moderne Märchen und Zukunftsbilder“, „Bilder aus der Zukunft“ und „Die Opfer der Wissenschaft“). Kurd Laßwitz, Gisbert Pniower und Julius Stinde begründeten diese bis Ende der 1910er Jahre andauernde Strömung von Kurzgeschichten, die sich spekulativ-philosophisch oder gesellschaftskritisch-satirisch mit „Zukunftsbildern“ beschäftigte.

Oft erschienen die Geschichten anonym, ihre Autor*innen sind teils vergessen – Bertha von Suttner und Franziska von Kapff-Essenther möchte ich als Namen exemplarisch hervorheben, da schreibende Frauen ja bekanntlich besonders gern vergessen werden. Je näher die deutschsprachige Science-Fiction an die Weltkriege rückte, umso mehr nahm sie auch kriegsverherrlichende und misogyne Tendenzen an, oder verwandelte sich von der Auseinandersetzung mit Zukunftsbildern in „unpolitische“ Abenteuerliteratur.

Aber natürlich steckt das Abenteuerliche, Pulpige im Kern der Science-Fiction: Als sich die deutschsprachige Science-Fiction-Kurzgeschichte schon wieder im Niedergang befand, etablierte sich in den USA eine neue Genre-Kurzgeschichtenkultur. 1926 gründete Hugo Gernsback das erste Pulp-Magazin (Groschenheft), das sich auf Science-Fiction spezialisierte: „Amazing Stories“, das mit ein paar Unterbrechungen bis heute fortbesteht und somit 97 Jahre alt ist.

Über die unterschiedlichen Entwicklungen der Science-Fiction-Kurzgeschichtenkultur im deutschsprachigen und im englischsprachigen Raum ließe sich sicherlich ein eigener Artikel füllen, aber wir brechen die kurze Zeitreise jetzt ab und widmen uns der Gegenwart.

Platz für Kurzgeschichten

Die Phantastik ist ein guter Ort für Kurzgeschichten – in wohl kaum einem anderen Genre gibt es so viele Möglichkeiten, ein Lesepublikum für die eigene Geschichte zu finden. Im US-amerikanischen Raum gibt es trotz einer Phase des (Print-)Magazinsterbens viele teils seit Jahrzehnten etablierte Magazine, wie „Clarkesworld“, „Strange Horizons“, „Lightspeed“ und „Fantasy&Science Fiction“. Dort können nur englischsprachige Kurzgeschichten eingereicht werden – aber es gibt durchaus deutschsprachige Autor*innen, die ihre Geschichten auf Englisch schreiben oder ins Englische übersetzen und dort einreichen, wie die für die Geschichte „When We Were Starless“ Hugo-nominierte Simone Heller.

Auch im deutschsprachigen Raum gibt es Magazine, die regelmäßig Science-Fiction-Kurzgeschichten veröffentlichen – doch sind diese etwas versteckter, und Honorare für die Geschichten sind oft nicht üblich. Eine erstaunliche Ausnahme stellt die c’t dar, das „Magazin für Computertechnik“, das seit 2010 in jeder Ausgabe eine „c’t story“ veröffentlicht. Auch das SFF-Kurzgeschichtenmagazin „Queer*Welten“, an dem ich als Co-Herausgeber*in beteiligt bin, zahlt ein kleines Autor*innenhonorar. Weitere Magazine sind z.B. „Exodus“, „!time Machine“ und „Nova“. Diese Magazine fliegen oft unter dem Radar, sind häufig Produkte von Autor*innen und Herausgeber*innen aus der Szene für Leser*innen aus der Szene, die oft selbst schreiben oder mindestens in der Onlinekultur aktiv sind.

Präsenter sind die themenspezifischen Anthologien, für die es im deutschsprachigen Raum häufiger öffentliche und breit zugängliche Ausschreibungen gibt als bei englischsprachigen Publikationen, wo eher bereits veröffentlichte Autor*innen angefragt werden. Viele deutschsprachige Kleinverlage bringen regelmäßig mit wechselnden Teams von Herausgebenden Themenanthologien heraus, wie beispielsweise das Österreich-fokussierte „Facetten der Zukunft“ im ohneohren-Verlag oder die erste deutschsprachige Solarpunk-Anthologie „Sonnenseiten – Street Art meets Solarpunk“ als Indie-Projekt der Münchner Schreiberlinge. International möchte ich die Anthologie „AfroSF: Science Fiction by African Writers“ hervorheben und die von Ken Liu herausgegebenen Sammlung chinesischer SF-Kurzgeschichten „Zerbrochene Sterne“ (die aus dem Englischen und Chinesischen ins Deutsche übersetzt wurde). Ein großartiges Zeitdokument stellen außerdem die beiden Bände „The Future is Female“ von Lisa Yaszek dar, die die Bühne bereitet für fünfzig Jahre weibliches Schreiben in der Science-Fiction und somit dazu beiträgt, dass diese Pionierinnen des Genres nicht vergessen werden.

Eine weitere Form von Kurzgeschichtenveröffentlichung stellen natürlich die Kurzgeschichtensammlungen dar. Der Unterschied zur Anthologie ist dabei, dass eine Kurzgeschichtensammlung nur Geschichten einer Autor*in enthält – und damit eher bereits etablierten Autor*innen vorbehalten ist. Der Kurzgeschichtenmarkt wird im deutschsprachigen Raum zum größten Teil von Kleinverlagen gestemmt, und so erscheinen auch brillante Sammlungen wie „How Long Til Black Future Month“ von N.K. Jemisin nicht auf Deutsch, weil Kleinverlage meist keine Lizenzen und Übersetzungen bezahlen können und Großverlage wenig Chancen für Science-Fiction-Kurzgeschichtensammlungen auf dem Markt sehen. Eine politisch aktuelle Ausnahme stellt die Kurzgeschichtensammlung „Geschichten aus der Heimat“ von Dmitry Glukhovsky dar, der jüngst als kremlkritischer Schriftsteller in Russland zur Fahndung ausgeschrieben wurde.

Künstliche „Intelligenz“ bitte nur in Geschichten!

Kürzlich machte „Clarkesworld“ jedoch aus einem anderen Grund Schlagzeilen. Neil Clarke, der das Magazin seit 17 Jahren herausgibt, schloss im Februar zum ersten Mal für längere Zeit das Ausschreibungsportal, da ihn allein im Februar 500 per ChatGPT generierte Spam-Einsendungen erreichten (wo sonst im Schnitt etwa 25 monatliche Einsendungen eintreffen). „Das ist letztlich die alte Geschichte von den schreibenden Affen, die eines Tages ein Shakespeare-Stück hinbekommen“, äußerte sich Clarke. „Aber wir müssen uns jetzt all diese Texte durchlesen, um herauszufinden, welches davon tatsächlich von Shakespeare ist.“

Denn per „AI“ erstellte Prosa lässt sich weder auf den ersten Blick noch mit Programmen ohne weiteres als das erkennen, was sie ist. Eine Geschichte kann gefällig beginnen und sich erst später als per machine learning aneinandergereihte Klischees und Banalitäten entpuppen. Das ist umso schwieriger, da „Clarkesworld“ Nachwuchs und Autor*innen fördern möchte, die nicht Englisch als Erstsprache haben. Programme zum Aufspüren von „AI“-generierten Texten markieren besonders die Texte Letzterer häufig als Spam, weil sie unübliche oder nicht korrekte Formulierungen enthalten.

Interessanterweise sieht Clarke den Grund für diesen Angriff, der ja wie aus einer SF-Kurzgeschichte erscheint, in der im englischsprachigen Raum guten Bezahlung für Genre-Kurzgeschichten: Es gilt ein Mindestsatz von der Science Fiction & Fantasy Writers Association von 8 Ct pro Wort, was die meisten anderen Genres und Literaturgattungen übersteigt. Das scheint sich in Scammer-Kreisen herumgesprochen zu haben, denn die Geschichten werden nicht automatisiert von Bots eingesendet, sondern meist tatsächlich von Menschen, die hoffen, mit per „AI“ massenhaft produzierten Geschichten Geld machen zu können. Aber genug von dieser dystopischen Dimension.

Science-Fiction häppchenweise

Kommen wir doch zur inhaltlichen Ebenen: Das Schönste an SFF-Kurzgeschichten (und auch der Grund, warum ich Teil des Queer*Welten-Herausgebenden-Teams bin) ist ja: Sie bieten Tore zu vielfältigen Spaziergängen in fremden Welten, Dimensionen oder Zukünften. Sie können Teil eines größeren Diskurses sein, eine bereits bestehende Erzählwelt erweitern oder eine neue vorbereiten – oder sie sind einfach für sich stehende, eigenständige Geschichten um eine Kernidee, eine zentrale Figur, ein einzelnes Problem oder eine sich entfaltende Möglichkeit. Mit wenigen Seiten können sie uns in Abgründe werfen, uns kalt erwischen, uns fesseln und uns dann mit einem Twist, einem Abschluss und Gedanken zum Weiterdenken zurücklassen.

Ein Grund, warum die Kurzgeschichte sich trotzdem nicht größter Beliebtheit bei vielen Lesenden erfreut, besteht sicherlich auch darin, dass wir uns an lange, komplexe Geschichten gewöhnt haben – selbst Filme verlieren zunehmend an Bedeutung gegenüber Serien, in deren acht bis zehn Folgen wir ähnlich viel Zeit verbringen wie in einem dicken Roman. Kurzgeschichten benötigen eine ähnliche Aufmerksamkeit in wesentlich kürzerer Zeit. Wir müssen uns Figuren merken, werden in eine neue Welt befördert, müssen eine Handlung verstehen sowie die Überraschungen und Subversionen, die Kurzgeschichten oft noch mehr mit sich bringen als längere Erzählformen.

Der Gedanke, Queer*Welten herauszugeben, rührt auch daher, dass wir uns als Redaktion und den Lesenden das Terrain Kurzgeschichte neu erschließen wollten. Zum einen versichert mir ein Science-Fiction- und Fantasy-Magazin mit intersektional feministischer Ausrichtung, dass ich mich beim Lesen nicht über die konservative Linie oder das misogyne Frauenbild ärgern muss, das der SF oftmals schwer auszutreiben ist. Und zum anderen mag ich persönlich, dass es darin so wenige Geschichten pro Ausgabe gibt, dass sie einzeln richtig gute Spaziergänge und zusammen einen erinnerungswürdigen Wandertrip ergeben. (Genau, ich will euch hiermit alle dazu überreden, Queer*Welten auszuprobieren und am besten sogar zu abonnieren!) Ich freue mich darüber, dass ich durch die Arbeit an Queer*Welten auch selbst das Potenzial von Kurzgeschichten stärker erkannt habe und mittlerweile unterstützend an einer Kurzform arbeiten kann, mit der ich mich noch vor einigen Jahren schwergetan habe.

Und obwohl die Kurzgeschichte für viele Schreibende am Anfang einer Laufbahn steht, ist sie kein Kinderspiel. Eine Kurzgeschichte, die noch lange bei den Lesenden bleibt, ist meist nicht einfach ein Auszug aus einem Roman oder eine längere Geschichte, die platzsparend zusammengedampft ist. Sie ist eine ganz eigene Form des Erzählens – oder vielmehr viele! Damit zu spielen, welche Erwartungen eine Geschichte aufbaut, welche Abkürzungen die Gedanken nehmen und wie sie auf überraschende Weise durchkreuzt werden können; das sind die verschlungenen Wege, die diesen Spaziergang zu seinem ganz eigenen Abenteuer machen.

Judith Vogt

Judith Vogt, aufgewachsen in einem Hundert-Seelen-Dorf in der Nordeifel und gelernte Buchhändlerin, steht seit 2010 als Schriftstellerin am anderen Ende der Buchnahrungskette. Sie lebt in Aachen und schreibt Romane, Rollenspiele, journalistische Artikel und Übersetzungen in ihrem Lieblingsgenre Phantastik und SF.

www.jcvogt.de