Lena Richter, 18.04.2024
Was wäre wenn, die Nazis den 2. Weltkrieg gewonnen hätten? Oder wenn die Sowjetunion zuerst auf dem Mond gelandet wäre? Solchen Fragen geht die Alternate History als Untergenre der Science Fiction nach. Lena Richter stellt es uns vor.
Sehr viele Geschichten beginnen mit der Frage: „Was wäre, wenn …?”. Doch kaum einem anderen Genre liegt diese Überlegung so inhärent inne wie der Alternate History. Alternate History, manchmal auch Alternativweltgeschichte, Parahistorie oder Eventualgeschichte genannt, ist ein Untergenre der Science-Fiction, in dem es im Kern darum geht, dass unsere eigene Welt an einem entscheidenden Punkt der Geschichte eine andere Wendung genommen hat.
Alternate History und Historische Fantasy – ein Versuch der Unterscheidung
Nicht ganz trennscharf ist sie dabei immer von der Historischen Fantasy abzugrenzen, die ebenfalls unsere Welt als Grundlage nimmt und Ereignisse der Vergangenheit verändert. Wenn man eine Unterscheidung vornehmen wollte, lässt diese sich oft an der Frage vollziehen, ob es übernatürliche Elemente in dem Setting gibt oder nicht. In Büchern wie Jonathan Strange und Mr. Norell von Susanna Clarke oder Naomi Noviks Drachenreiter Seiner Majestät-Reihe verläuft die Geschichte auch anders, aber vor allem deshalb, weil es Magie oder Drachen gibt. Alternate History verwendet hingegen solche Elemente nicht oder selten. Stattdessen ist die Abweichung in der Geschichtsschreibung selbst das phantastische Element, das den von unserer Realität abweichenden Weltenbau speist. Natürlich gibt es auch Mischformen, zum Beispiel solche, die der alternativen Vergangenheit mit übernatürlichen Elementen wie Zeitreisen beikommen wollen, wie etwa Annalee Newitz’ The Future of Another Timeline oder Bring the Jubilee (dt. Der Große Süden) von Ward Moore. Manchmal wird auch der Erhalt von indigenen Mythen und Legenden (oft wegen einer ausbleibenden Kolonialisierung durch europäische Mächte) damit verbunden, dass diese in dieser Alternativwelt wirklich übernatürliche Kräfte verleihen.
Je länger dabei der Zeitpunkt zurückliegt, an dem die alternative Geschichtsschreibung abzweigt, desto öfter finden sich magische oder andere paranormale Elemente. Das gilt auch für Kim Stanley Robinsons The Years of Rice and Salt, das eine sehr profane Ursache für seine Alternativwelt hat: In dem Buch hat die Pest in Europa nicht ein Drittel der Bevölkerung ausgelöscht, sondern 99 Prozent, was eine gänzlich andere Geschichtsschreibung verursacht, die in zehn Abschnitten über Hunderte von Jahren erzählt wird. Trotz sonst fehlender übernatürlicher Elemente tauchen in diesen zehn Abschnitten durch Reinkarnation immer wieder dieselben Figuren auf.
Alternate History muss dabei auch gar nicht immer in der Vergangenheit spielen: In einigen Geschichten liegt die historische Abweichung zwar schon länger zurück, die Handlung spielt aber in der Gegenwart oder in der Zukunft. Ein Beispiel dafür ist Fallout, die postapokalyptische Computerspielreihe, deren Serienadaption gerade auf Amazon Prime gestartet ist. Serie und Spiele sind in der Zukunft angesiedelt, zu verschiedenen Zeitpunkten nach dem großen Atomkrieg 2077, aber die Historie des Settings biegt schon irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg von unserer Realität ab: Nukleare Antriebe im Miniformat sorgen für Roboter und Powerrüstungen, die USA zerfällt 1969 in 13 Commonwealths und verharrt auch im Jahr 2077 in einem retro-futuristischen Lebensstil, der in Mode, Architektur und Familienbild die 1950ern bewahrt.
Und dann gibt es natürlich noch jene Geschichten, die einmal als futuristisch angefangen haben, aber inzwischen Alternate History sind oder es bald sein werden: Zum Beispiel die Welt des Rollenspiels Shadowrun, in der in der 2011 die Magie in die Welt zurückkehrt(e) – bei erstem Erscheinen des Rollenspiels 1989 noch ferne Zukunft, inzwischen alternative Geschichte. Ähnlich wird es bald bei Octavia Butlers Parabel-Romanen aussehen, von denen der erste im Jahr 2024 spielt. Unsere reale Welt ist immerhin noch ein Stückchen weniger dystopisch als die der Romane, auch wenn wir als Menschheit uns offenbar Mühe geben, der Sache näherzukommen.